Mittwoch, 29. Dezember 2010

Kino-Rückblick 2010


Das Jahr geht zu Ende. Übermorgen ist schon Silvester und bis dahin werde ich es wohl nicht mehr ins Kino schaffen. Das ist doch die perfekte Gelegenheit um das Kinojahr 2010 zu resümieren und die besten Filme des Jahres zu küren.

Insgesamt schien 2010 ein eher schwaches Kinojahr gewesen zu sein, doch das ist ein Irrtum. Ich war dieses Jahr öfter im Kino als jemals zuvor, 44 mal um genau zu sein und es waren zahlreiche gute Filme darunter. Vorallem die zweite Jahreshälfte trumpfte nochmal ordentlich auf.

Die Coen-Brüder eröffneten das Kinojahr positiv mit ihrer semi-biografischen Versuchsanordnung "A Serious Man".

Die Berlinale war durch Skandale, wie "Jud Süß" und "The Killer Inside Me" gekennzeichnet. Andere gute Filme waren "How I Ended This Summer", "Mammuth" und "Der Räuber". Nach der Berlinale, kamen mit "Shutter Island" und "Kick-Ass" weitere sehenswerte Filme ins Kino.

Vincenzo Natali ließ mit "Splice" den Kino-Sommer ungemütlich beginnen. Christopher Nolan lieferte daraufhin mit "Inception" den Hype des Jahres und zeigte, dass Hollywood noch nicht verloren war.

Das FantasyFilmFest war dieses Jahr herausragend gut und schenkte uns mit "Rubber" den ungewöhnlichsten Film seit Jahrzehnten. Auch die Kurzfilme hatten wiedereinmal ein hohes Niveau und Gregg Araki lieferte mit "KABOOM" den queersten Endzeit-Film ever ab.

Pixar gelang auch dieses Jahr ein Kunststück. "Toy Story 3" war kein billiges Sequel, sondern die ungewöhnlich erwachsene Erzählung eines Kinderzimmer-Genozids. Der Spross von David Bowie ließ mit seinem Debüt "Moon" den klassischen Sci-Fi wieder auferstehen und David Fincher bewies im Oktober, dass sein Kino noch lange nicht vorbei ist.

Den besten 3D-Film lieferte dieses Jahr Alexandre Aja mit seinem Neo-Trash-Splatter "Piranha", natürlich mit sehr viel Ironie und Gallonen von Kunstblut.

Den coolsten Film des Jahres bekam man mit "Scott Pilgrim vs. The World" zu sehen. Edgar Wright übertraf nochmal seine grandiosen Parodien "Shau of the Dead" und "Hot Fuzz" und zeigte dem amerikanischen Kino, was awesome wirklich bedeutet.

Von den zwei Dokumentarfilmen, die ich dieses Jahr gesehen habe, hat mir Banksys Street-Art-Doku "Exit Through the Gift Shop" am besten gefallen, vorallem weil man nie wusste inwieweit es sich wirklich um eine Doku handelte.

Zum Jahresende meldete sich Disney noch zur Stelle und zeigte mit "Rapunzel" eine herrlich komische Märchen-Adaption im Stile eines "North by Northwest".


Das Jahr war also reich an guten Filmen. Im folgenden werde ich einfach meine persönlichen Awards-of-the-year verleihen...


TOP 5

1. "Rubber" (Quentin Dupieux)

2. "Scott Pilgrim vs. The World" (Edgar Wright)

3. "The Social Network" (David Fincher)

4. "Moon" (Duncan Jones)

5. "The Killer Inside Me" (Michael Winterbottom)


BESTER DEUTSCH-SPRACHIGER FILM

"Der Räuber" (Benjamin Heisenberg)


GRÖßTE ÜBERRASCHUNG

"Splice" (Vincenzo Natali)


BESTER FILM EINER REGIE-LEGENDE

"Shutter Island" (Martin Scorsese)


BESTES DEBÜT

"Rubber" (Quentin Dupieux)


BESTER ANIMATIONSFILM

"Toy Story 3" (Lee Unkrich)


BESTE RETROSPEKTIVE

"The River" (Jean Renoir)

Berlinale


BESTER HEIMKINO-RELEASE

Alien Anthology

Blu-Ray


LOBENDE ERWÄHNUNG

"Inception" (Christopher Nolan)


GRÖßTE ENTTÄUSCHUNG

"Alice im Wunderland" (Tim Burton)


SCLECHTESTER FILM DES JAHRES

"The Silent House" (Gustavo Hernández)


Ich hoffe das gibt euch eine gute Zusammenfassung des Kinos in 2010. Das neue Jahr hält wieder einige Wunder bereit. Man darf gespannt sein. ich wünsche euch schon mal einen guten Rutsch und eine heftige Silvester-Party. Wer es sich lieber mit Filmen gemütlich machen möchte, der hat nun genügend Vorschläge bekommen.


Zum Abschluss hier noch eine kurze Auflistung meiner persönlichen Most-Wanted 2011!


1. "Night Train" (Nicolas Roeg)

Start: unbekannt

2. "The Tree of Life" (Terrence Malick)

Start: Juni (?)

3. "The Talking Cure" (David Cronenberg)

Start: unbekannt

4. "Source Code" (Duncan Jones)

Start: 5. Mai

5. "Tron: Legacy" (Joseph Kosinski)

Start: 27. Januar



THE KILLER INSIDE ME


Der britische Tausendsassa Michael Winterbottom verlässt seine bisherige semi-dokumentarische Phase und liefert eine hoch-fiktive Literaturverfilmung ab, in der Casey Affleck als Psychopath und Halbgott auftritt.


Ich habe keine Ahnung was mit den Kritikern los ist. Durchschnittsfilme, wie "Im Schatten" und "Orly" werden in den Himmel gelobt ("Is' ja Berliner Schule, muss ja gut sein"), während Michael Winterbottoms neuer Film, aufgrund von halbgaren Skandalvorwürfen und Frauenfeindlichkeitsanschuldigungen (longest word, i've ever wirtten), verrissen wird, ja sogar ausgebuht wurde und wer die Pressekonferenz gesehen hat, merkt die enorme Antipathie gegenüber Winterbottom und seinem neuen Film.

Dabei ist "The Killer inside me" in vielerlei Hinsicht ein herausragender Film. Ein Kritiker fragte Winterbottom sogar, mit leicht fiesem Unterton, ob dieser Film überhaupt zur Berlinale passen würde. Das könnte man auch als Kompliment begreifen. Denn dieser Film pfeift auf Naturalismus, jedweden populär-politischen Diskurs und freudlose Inszenierungen. Hier geht es um Verve, Stil und Pulp, ja Pulp, aber nicht im Sinne eines Tarantinos, viel eher Pulp im Ausmaß einer griechischen Tragödie.

Gehen wir mal zuerst auf die "skandalöse" Gewalt ein. Meine Begleitung und ich betreten den Friedrichstadtpalast. Die Kartenabreißerin schaut auf unsere Tickets, nickt und sagt: "Sie werden einen starken Magen brauchen." Ich schmunzle, ich hatte ja schon im Internet gelesen, dass der Film in Sundance Wellen geschlaben haben soll. Parallelen zu "Antichrist" kommen mir in den Sinn. Dennoch, unterschiedlicher könnten beide Filme kaum sein. Kurzum, die Gewalt in "The Killer inside me" ist zu keiner Sekunde skandalös um des Skandals-Willen, darüberhinaus ist sie nie prätenziös, verherrlichend oder irgendwie handlungsfördernd. Obwohl, die Kamera ständig draufhält, bleibt die Gewalt stets eine Verletzung anderer, schmerzhaft und unkonsumierbar.

Genug davon, kommen wir zum eigentlich interessanten, dem virtuosen Casey Affleck, der seinen Anti-Helden mit einem so unterschwelligen Sadismus gibt, ihn gleichzeitig romatisch, witzig und liebenswert zeichnet, dass die Identifikationsmöglichkeiten von Zuschauer und Figur an ihre Grenzen getrieben werden. Die Gefahr besteht, sich mit einem Mörder gleichzuschalten, doch Winterbottoms Inszenierung weiß das zu verhindern. Er sorgt für die nötige Distanz. Sei es durch Brüche zwischen Bild- und Tonebene oder den lückenemitierenden Schnitt.

Auch der restliche Cast ist großartig, allen voran Jessica Alba und Kate Hudson, die als einzige Starlets auftreten, ebenso inszeniert werden und in Hitchcock-Manier den Film frühzeitig verlassen. Alba und Hudson spielen Figuren, fernab von Klischees, schauspielerisch so ausgezeichnet, dass ihre Ermordungen umso schockierender wirken.

Was überrascht ist die relativ unauffällige Kamera. Die wirkliche Posen und Gemälde, will dieser Film nicht liefern. Er kommt nicht in die Verlegenheit sich mit Bildern eines Roger Deakins aus "No Country for Old Men" messen lassen zu müssen. Viel eher wirken die Einstellungen improvisiert, aber ästhetisch, nie dokumentarisch, sondern immer ausgefeilt. Die mit der Handkamera eingefangenen Cinemascope-Bilder, erinnern in ihren besten Momenten an das Kino eines Nicolas Roeg und Anthony Richmond.

Was am Ende wohl vielen Zuschauer durch den Kopf ging, war die Frage nach dem "Warum?". Jedenfalls fiel diese Frage auch bei der Pressekonferenz. Wer ein ausführliches Psychogramm erwartet, wird enttäuscht. Afflecks John Ford ist mehr als ein Mörder mit schlechter Kindheit. Die wenigen Anspielungen, die Winterbottom sich leistet, haben mehr mit den Frauenfiguren als mit der Wurzel des Bösen zu tun. Der Background des Mörders ist hier wirklich nur Background und manifestiert sich z.b. in dem Elterhaus in dem Ford wohnt und den Arien, die er hört. Das sind Details, Striche, die die Figur umkreisen, sie aber nie zu Ende zeichnen.

Eigentlich sagt es Ford schon zu Beginn (Der Film besitzt viele Voice-Overs, überwiegend direkt dem Buch entlehnt). "In einer Kleinstadt, glaubt jeder dich zu kennen." und auch Winterbottom sagte bei der Pressekonferenz, dass es ihn mehr interessiert habe, wie sich die Figuren verhalten. Kenne ich mein gegenüber? Auch wenn ich mit ihm lebe, mit ihm schlafe, esse und trinke? Mordet es sich nicht einfacher, wenn alle glauben einen zu kennen? Und, viel wichtiger, wie verhält es sich umgekehrt? Man könnte sagen, den einzigen Fehler, den sich Ford leistet, ist zu Glauben er kenne seine Mitmenschen, aber sie ihn nicht. Diese Form der Arroganz, wird im Film oft angesprochen. "Lass dir deine Sprüche, für die Spatzen." sagt der Gewerkschaftsführer einmal zu ihm. Diese Arroganz bringt Ford zu Fall, denn sein Größenwahn ist schon so gewachsen, dass er sich selbst als Regisseur seines eigenen Films sieht.

Dieser nie frauenfeindliche Film, entwickelt nicht nur eine aufregende Vision über die Schwierigkeit sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sondern entblößt sogar den Filmemacher als den eigentlichen Mörder aller Mörder. Im Falle von Michael Winterbottom sollte man aber Gnade vor Recht walten lassen.

gesehen auf der Berlinale 2010

Wertung: 8/10



Der Film lief bisher nur auf Festivals und hat noch keinen deutschen Starttermin. In den USA und Großbritannien gibt es ihn allerdings schon auf DVD und Blu-Ray.


Sonntag, 5. Dezember 2010

CARLOS


Was ein großes tiefschürfendes Epos über den linken Terrorismus der 70er und seine Anbändelung mit dem Kapitalismus hätte werden können, gerät bei Assayas leider nur zu einem handwerklich außergewöhnlichen Reenactment-Tagebuch.


Edgar Ramirez verkörpert Carlos mit vollem Körpereinsatz, lässt sich Zeit für seinen Körperkult, seine Blicke und Eroberungen. Dennoch lässt uns Assayas auf Distanz. Wir erfahren über Carlos immer nur so viel wie es der historische Kontext zulässt. Der Film folgt einer unaufhaltsamen Geschichtsbuch-Chronologie.

Ebenso ist die Dramaturgie sprunghaft. Manches wird lang gedehnt (OPEC-Anschlag), vieles nur angerissen. Das mag keine Überraschung sein und ist sowieso kein schlechtes Zeichen. Assayas gelingt es durchgehend den Fokus richtig zu setzen und internationale Zusammenhänge fast simpel auf Spielfilmformat herunter zubrechen.

Letztendlich ähnelt "Carlos" aber zu sehr einer Form von Kino mit der ich schon lange auf Kriegsfuß stehe. Obwohl der Film zu Beginn die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte grundsätzlich anzweifelt, erzählt Assayas seinen Film trotzdem mit der "Aufgeregtheit" eines Universitäts-Professors. Anstatt er, wie David Fincher zuletzt in "The Social Network", sich an die Kraft des Fiktiven hält und die wahre Begebenheit nur als Anlass einer umfassenden Analyse nutzt, wirkt "Carlos" so als klammere sich Assayas an Akten, Protokollen und wahrscheinlich so zugetragenen Ereignissen fest. Dabei vermischt er kommentarlos inszenierte Nachrichtenbeiträge mit der Spielfilmhandlung. Ich fühlte mich stark an Uli Edels "Baader-Meinhof-Komplex" erinnert, der mit ähnlicher N24-Reenactment-Lust den Zuschauer den wirlichen Zugang zur Geschichte mit der Kraft des Unterhaltungskinos verbauen möchte.

In diesem blutleeren Kontext können nur die Figuren leiden, die durch ihre historische Aura zu Chiffren degradiert werden. Nur wenigen Charakteren gönnt Assayas genügend Fokus damit sie ihr eigenes fiktives Leben entwickeln können. Neben dem hervorragenden Christoph Bach und dem ebenso tollen Alexander Scheer, hat mich natürlich Edgar Ramirez begeistert, der besonders in der letzten Stunde sehr viel gewinnt.

Das beste an "Carlos", und das kann die zwiespältige Inszenierung auch nicht kaputt machen, ist sein Porträt, Carlos als Revolutionär und Privatperson. Eine gefährliche sexuelle Arroganz steht hier in Verbindung mit einer eisernen Ideologie, angeführt durch Waffengewalt. Die kommentarlosen Anschläge vermitteln da eher wenig. Viel packender sind dagegen Carlos Zeiten im Exil, zwischen Trunksucht und Hahnenkämpfen, billigen Huren und dem Hals in der Schlinge.
Hier gelingt Assayas eine glückliche Dekonstruktion, ganz mit den Mitteln des fiktiven. Wenn Carlos eine Prostituierte zusammenschlägt, weil sie sein Sperma ausgespuckt hat, dann hat der Terrorismus seinen ganzen Romantizismus verloren und bleibt in einer ekelhaften privaten Dimension gefangen.

Reszensiert wurde hier die Langversion (330 min).

Wertung: 6,5/10


"Carlos - Der Schakal"
FR, BRD 2010
Olivier Assayas
mit Edgar Ramirez, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer



Den Film gibt es in der Kurzfassung (180 min) in vielen Kinos zu sehen. Die Langfassung gibt es mit nur wenigen Kopien sporadisch in unterschiedlichen Städten zu sehen.


Donnerstag, 2. Dezember 2010

THE READER


Ich krame gerade in alten Texten rum, da lese ich meinen alten Kommentar zu Stephen Daldrys gefühlvoller Literaturverfilmung, die ich im Beisein von Kate und David auf der Berlinale genießen konnte.

"Der Vorleser" ist kein dickes Buch. Ich musste es in der Schule lesen und wurde mit einer Fülle an Themen konfrontiert, die man diesem kleinen unscheinbaren Roman nicht zugetraut hätte. Die Shoah, die deutsche Schuld, Vergebung, Liebe zwischen Jung und Alt und Analphabetismus sind die Kerne der Geschichte. Das Buch kam nicht ohne Kritik davon. Zu viel und doch so wenig wird erzählt und Empathie für die Täter waren die Kritikpunkte.

Daldrys Verfilmung kann diesen Schlingen nicht ausweichen. Allerdings muss man sich fragen inwieweit die angebrachten Punkte eine ernste Kritik sein sollen. Die Fülle an Themen gibt dem Film einen enormen Nährboden, der ihn vor der Unterkomplexität bewahrt. Anstatt nun mit einer epischen Länge daher zukommen, wie zuletzt, der auf einer Kurzgeschichte basierende "Benjamin Button", präsentiert sich der Film in angenehmen zwei Stunden in denen die vielen Fragmente noch viel verdichteter wirken und eine Spannung aus sich selbst heraus erzeugen.

"Der Vorleser" ist eine Geschichte über die Shoah in Privatem. Praktisch alles findet im Privatem statt. Hinter vorgehaltenem Mund, in den Köpfen der Menschen und in den Wohnungen. Nur selten gibt es ein öffentliches Aushandeln. Auch bei der Gerichtsverhandlung, spielen sich die wahren Verhandlungen unter der Oberfläche ab. Das begünstigt Daldrys intimer Blick, der ganz besonders in den Liebeszenen eine natürliche Ästhetik auszeichnet. Vorallem die Kamera, u.a. Roger Deakins, vollbringt Oscar-reifes.

Die größten Vorzüge dieser hervorragenden Literaturverfilmung liegen definitv bei den Schauspielern. Wenige ausländische Stars in einem großenteils deutschen Ensemble, dass besser rüberkommt als in jeder Bernd-Eichinger-Produktion. Allen voran David Kross, der seinen ganzen Mut zusammen nehmen musste und seine erste internationale Hauptrolle meistert. Helles Zentrum des Cast ist natürlich Kate Winslet, die in einer ganz neuen Rolle zusehen ist. Hanna ist nicht einfach nur die Geliebte. Sie ist Pro- und Antagonist und trotz ihrer sympathischen Erscheinung und ihrer lieben Art, stattet Winslet ihre Rolle, ganz besonders in den Streit- und Gerichtsszenen, mit Widerhaken aus, die ein Verhandeln über ihre Schuld ausschließen und sie zum stillen Monster werden lassen. Ralph Fiennes dagegen präsentiert einen gebrochenen Mann, dem es an nichts materiellem mangelt, doch der von innen von Schuld, Sehnsucht, aber auch Abscheu seiner großen Liebe gegenüber zerfressen ist.

Der Film entwickelt ein breites geschichtliches Panorama, was im Nachkriegsdeutschland beginnt und beinahe in der Gegenwart endet. Dabei begeht der Film nie den Fehler die Nazi-Vergangenheit Hannas zu bebildern und lässt somit Verständnis für die Richter aufkommen, die nunmal die schwere Bürde tragen zu entscheiden, was damals vorgefallen ist.

Daldrys Stil ist unverkennbar in den Film eingebrannt und passt sehr gut zur Geschichte. Wie schon bei "The Hours" gelingt ihm eine kunstvolle Verknüpfung der verschiedenen Erzählebenen. Zwar ist dies kein Episodenfilm, aber hier gilt es mehrere Zeitabschnitte miteinander zu verbinden. Auch das Daldry-typische Aufpumpen der Ton-Ebene funktioniert gut. In kräftigen Montagen hämmert die Musik im Hintergrund, während der alte Michael aus Büchern vorliest.

Gerade in den letzten Szenen erreicht der Film seine interessantesten Momente, da die Distanz zur Vergangenheit riesig erscheint, der Holocaust aber immer noch so nah ist wie zuvor und deshalb fällt es natürlich der KZ-Überlebenden schwer Hanna eine Absolution zu erteilen. Stellvertretend ist eine Vergebung der gesamten deutschen Schuld nicht möglich. Genauso wenig wie Michael seine Dämonen los wird. Der Film entwirft die Aussage, dass manche Taten nicht vergeben werden können, aber verspricht Linderung in dem Moment, in dem Michael seiner Tochter alles erzählt. Das Weitergeben des Erlebten an die nächste Generation ist die einzige Form der "Absolution" die möglich ist. Das ist ein großer und wahrer Film.

gesehen auf der Berlinale 2009

Wertung: 8/10

"Der Vorleser"
USA, BRD 2008
Stephen Daldry
mit Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes

Dienstag, 2. November 2010

SCOTT PILGRIM VS. THE WORLD


Wenn in den letzten Jahren ein Film mehr wie ein Videospiel wirkte, dann war das peinlich. Wenn sich der Regisseur von „Shaun of the Dead“ an einer Liaison zwischen Kino und Game versucht, dann kommt da was ganz besonderes bei heraus.

Was haben Filme wie die Prequel-Trilogie von „Star Wars“ oder Doug Limans „Jumper“ gemeinsam? Sie alle ähneln in ihrer Dramaturgie dem Level- oder Missionsdesign eines Videospiels. „Jumper“ war dazu noch so schlecht, dass man sich den Film nur als besseres Computerspiel denken konnte. Lucas Filme dagegen trugen noch den ursprünglichen Geist des Blockbuster-Kinos inne und hatten genug Kult-Basis, um nicht vollends filmisch zu versagen, wobei der dritte Teil mit seiner Aneinanderreihung von Endgegner-Kämpfen frappierend wie die Blaupause zum gleichnamigen Videospiel wirkte.

Dass Videospiele einen enormen Einfluss auf das Kino haben, lässt sich nicht mehr leugnen, respektive der umgekehrte Weg. „Alien“ und „Predator“ waren mal ursprünglich Filme, aus denen in den 90er der erfolgreiche Ego-Shooter „Alien vs. Predator“ entstanden ist. Dem Kult der Filme oder der Spiele (so genau kann man das gar nicht mehr sagen) ist es dann zu verdanken gewesen, dass uns Hollywood einen „Alien vs Predator“-Film schenkte. Eine Möbiusschleife? Es passt zur postmodernen Auffassung des Blockbuster-Kinos, was sich ganz dem Recycling verschrieben hat, und seine einst originellen Ideen mit endlosen Reboots, Remakes und Sequels verschandelt.

Dennoch, Hollywood macht das nicht ohne Grund, es geht immer nur ums Geld, in erster Linie und wenn der 10. „Spiderman“ nicht geguckt werden würde, dann würde man sich auch überlegen überhaupt einen 11. zu drehen. Was ist denn z.B. aus den Fortsetzungen der „Dark Materials“-Reihe geworden? „Der goldene Kompass“ wird wohl ohne filmische Zukunft auskommen.

Verwertungsketten sind das A und O geworden. Erfolgreiche Bücher werden verfilmt und dann als Videospiel portiert und dann wird vielleicht irgendwann die Fortsetzung vom Videospiel zum Film zum Buch verfilmt und spätestens zum Kinostart gibt es den Roman dazu. Klingt absurd, aber denken wir doch nochmal an das „Alien vs. Predator“-Beispiel.

Videospiele scheinen allerdings nicht so die Hit-Lieferanten zu sein und mir fällt ehrlich gesagt keine erfolgreiche Videospielverfilmung ein. Gut, „Tomb Raider“ wurde fortgesetzt und „Alien vs. Predator“ auch, aber das liegt ja rückführend an den Urfilmen bzw. die Sequels waren billig. Da rentieren sich ja Kinderspielzeug („Transformers“) und Freizeitparkattraktionen („Pirates of the Caribbean“) sogar mehr.

Doch neben Bestsellern und Küchenutensilien scheint Hollywood seine wahre Goldgrube in Comicverfilmungen gefunden zu haben. Während sie in den 90er noch recht selten waren und Filme wie „Tank Girl“ für leere Portmonees sorgten, fing spätestens mit „X-Men“ die Erfolgswelle an und sie hält bis heute und nachdem man fast jede bekannte Comicreihe auf Zelluloid gebannt hat, ist es in letzter Zeit Mode geworden weniger bekannte Graphic Novels zu verfilmen und sie dem unwissenden Publikum als originäre Ideen unterzujubeln. Die wenigsten wussten doch, dass „Watchmen“, „The Spirit“ und zuletzt „Kick-Ass“ auf Comics beruhen und trotzdem hatten diese Filme Erfolg, während „Super Mario Bros.“ alle seine Leben beim ersten Sprung verlieren musste.

Das Erfolgsrezept bleibt schwammig, besonders wenn man an „Inception“ denkt, der sich einer klaren Vorlage verweigert und an das originelle Hollywood erinnert, ebenso „Avatar“, der zwar nicht originell war, aber wenigstens auf ein „Based on...“ im Vorspann pfeift.

Es ist leidig über die Gewinnchancen eines Films zu sinnieren. Du kannst neu, alt oder erst auf der Hälfte der Verwertungskette sein, manchmal klappt es und mal wieder nicht und im nach hinein wissen wieder alle, was der Grund für den Misserfolg war.

Dass „Scott Pilgrim vs. The World“ so erfolglos startete, kann zum einen an der eng-begrenzten Zielgruppe oder an der grundsätzlichen Weirdness liegen, die bei Edgar Wrights neuem Film aus allen Poren dampft. Dass der Film auf einer Graphic Novel beruht hat ihm jedenfalls nicht geholfen, zumal der Comic hier nur Insidern bekannt sein sollte. Dennoch hat sich Hollywood das erste Mal getraut seine ekelhafte Verwertungsstrategie ordentlich zu reflektieren, denn wer „Scott Pilgrim“ sieht, der sieht nicht nur einen Film, sondern ein Geflecht aus Referenzen, die vom ursprünglichen Comic bis hin zur Videospielgeschichte reicht. Vielleicht war das auch die Crux, wieder diese unbeliebten Videospiele, die im Kino niemand sehen will, während die wenigsten bemerken, dass fast alle großen Produktionen zurzeit der Videospieldramaturgie folgen. Kommt aber ein Film daher, der ganz offen und ehrlich seinen Hintergrund offenbart, dann verweigern die meisten den Kauf der Kinokarte.

Edgar Wright hat jedenfalls alles richtig gemacht. „Scott Pilgrim“ ist sein bisher bester Film und was Wright mit seinen beiden vorherigen Filmen üben konnte, dass reift hier nun endgültig zur Perfektion. Seine Kunst ist weniger Film- als Medienkunst. Er ist ein Wanderer zwischen den Welten, ein Mediator, jemand dem es mühelos gelingt ein Medium ins andere zu übersetzen.

Warum sollte man nicht auch das „Ding Dong“ der Türklingel, eben wie im Comic, typographisch in den Film mit einbinden? Natürlich hört man das echte Geräusch gleichzeitig. Hier küssen sich schließlich zwei Künste und wenn ein Teil der Kritiker solche Dopplungseffekte als puren Selbstzweck abstempelt, dafür aber Godard-Filme ala „Week-End“ lobt, dann haben sie etwas nicht verstanden. Während Godard das Kino mit neuen Formen bereichert und modernisiert hat, gehört Wright nun zu der Generation, die aus dieser Masse an „Regelbrüchen“ schöpft und sie in ihre Filme übersetzt. Es gibt natürlich einen Haufen an Negativ-Beispielen, wo Godards Formen ungenutzt im Raum stehen, „Scott Pilgrim“ gehört aber definitiv nicht dazu, seien es die Texteinblendungen, die selbstreferenzielle Inszenierung oder die Demontage von sämtlichen Realismus.

Beeindruckend bei diesem Potpourri aus Videospiel, Comic und Musikfilm ist der rote Faden, der scheinbar nie aus den Augen gelassen wurde. Hier geht es letztendlich auch nur um die älteste Geschichte der Welt, Junge trifft Mädchen. Wright hatte bereits in seinen letzten Filmen gezeigt, dass er bei all den Gags nicht die Figuren aus den Augen verliert. Die Titelfigur wird hier von Michael Cera gespielt, der mit dem Wort „Nerd“ auf der Stirn wohl bereits schon auf die Welt gekommen zu sein scheint. Allerdings, Scott ist kein Nerd. Er ist ein kleiner Frauenheld und ein Slacker, der durch sein mangelndes Verantwortungsgefühl auch unsympathisch sein kann. Diese feine Besetzung gegen den Strich und Ceras typische Darstellung helfen Scott nicht zum Klischee zu geraten, ebenso Ramona Flowers, Scotts „Love Interest“, gespielt von Elizabeth Winstead, die viele wahrscheinlich noch als heißes Cheerleader-Chick aus Tarantinos „Death Proof“ kennen. Die Rolle der Ramona wirkt weitaus jünger, unreifer und weniger sexy. Winssteads Aura läuft auch hier der Rolle zuwider, was zum gleichen positiven Effekt wie bei Ceras Figur führt.

Die schauspielerischen Leistungen lassen die Liebesgeschichte erst glaubhaft werden und Wright drosselt gezielt da das Tempo seiner ansonsten fabulös-schnellen Inszenierung um der Romanze der Beiden genügend Luft zum Atmen zu lassen. Dass dazu noch der restliche Cast brilliert, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Von all den Nebenfiguren, hat mir aber am besten Kieran Culkins Figur gefallen. Scotts bester Freund ist so herrlich lakonisch und ehrlich, dass er Cera teilweise die Show stiehlt.

Unterm Strich ist „Scott Pilgrim“ einer der besten Filme des Jahres, der leider zu wenig gehypet wurde, um kommerziell in der Liga eines „Inception“ zu spielen, obwohl Wright den besseren Film gemacht hat. So einen Film hat es noch nicht gegeben. Er ist wirklich originell und gleichzeitig ein herrlicher Kommentar zu Hollywoods Adaptionsterrorismus. Zugleich ist es auch feuriges Plädoyer zur Rehabilitation der Videospielkunst, die zuletzt dank „WoW“ und „Killerspielen“ öffentlich geächtet wurde. Es wird nochmal an die Ursprünge erinnert, an das NES, Super Mario Bros., Amiga, Atari, C64, Pac-Man, GameBoy, Space Invaders, Dance Dance Revolution, Zelda, Tetris, Pong und viele viele mehr.

Wertung: 8,5/10


"Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt"

USA, 2010

Edgar Wright

mit Michael Cera, Elizabeth Winstead, Jason Schwartzman


Ab ins Kino!


Samstag, 23. Oktober 2010

PIRANHA


Alejandre Aja verfilmt Joe Dantes „Piranha“ neu und formuliert eine zwiespältige Sicht auf die schönen Körper junger Menschen.

Trashfilme sind heutzutage mehr als salonfähig geworden. Regisseure wie Tarantino oder Rodriguez haben den Trash aus seinem Nischendasein befreit. Tarantino kommt seit „Kill Bill“ nicht mehr ohne einen gewissen Trashfaktor aus und Rodriguez zelebriert den schlechten Geschmack ganz ehrlich mit „Planet Terror“ und demnächst „Machete“.

Alejandre Aja hat mit Trash in erster Linie wenig zu tun. Nachdem er die Filmwelt mit seinem umstrittenen Debüt „Haute Tension“ auf sich aufmerksam gemacht hatte, ging er gleich nach Hollywood und inszenierte zwei unterschiedliche Remakes. „The Hills have Eyes“ war die grimmige Neu-Interpretation von Was Cravens zweitem Film, der dazu ein klassischer Vertreter des Mitternachtskinos war. Somit begeben wir uns schon mal in den Dunstkreis des Trash, doch Ajas Film war ein Hochglanz-Remake mit hohem Budget, starkem Retro-Faktor und heftigem Terror-Level. Sein nächster Film „Mirrors“, das Remake eines japanischen Horrorfilms, war wieder Hochglanz-Horror und gleichzeitig Star-Vehikel für Kiefer Sutherland. Die Kritiken fielen überwiegend schlecht aus. Trash war der Film wohl nur aus unfreiwilliger Sicht.

Mit „Piranha“ hat sich eigentlich wenig geändert, wieder ein Remake und wieder Hochglanz. Allerdings, mit der ersten Ankündigung und der darauffolgenden Vermarktung schmückte sich der Film bereits mit dem Trend-Label „TRASH“. Ein Film der so schlecht ist, dass er Spaß macht. Vielleicht war das der Schritt den Aja machen musste um sich von seinen Schatten zu befreien, denn „Piranha“ macht fast alles richtig. Das fängt bei der Besetzung an. Während die absichtlich substanzlosen Hauptrollen mit Null-Gesichtern besetzt werden, verlustiert sich Aja mit den Nebenrollen und fährt mit Ving Rhames, Richard Dreyfuss, Elizabeth Shue, Christopher Lloyd, Eli Roth und Jerry O’Connell einen Cast für Filmfans auf. Sie alle verkörpern stilisierte Klischees und es dominiert mehr die Aura des Schauspielers als die der Rolle. Wenn man sich bedenkt, dass Lloyds Figur nur dafür da ist, um uns zu erzählen was das für Fische sind und was sie machen, dann kann man nur schmunzeln bei so viel offener Verschwendung von Stars.

Das Wort „Trash“ ist zum Label geworden, wobei man sich schon fragen muss, ob Filme mit Multi-Millionen-Budget noch als Trashfilme durchgehen. Das Unterhaltsame am Trash waren doch neben den vielen Geschmacklosigkeiten, besonders das lausige Handwerk und die begrenzten Mittel. „Plan 9 From Outer Space“ ist doch in erster Linie lustig, weil er so schrecklich billig aussieht und aus schlimmen Filmfehlern besteht. „Piranha“ sieht nie billig aus (selbst die Piranhas nicht, das kriegt man noch schlechter hin) und von Filmfehlern kann gar keine Rede sein. Wenn man Aja etwas attestieren muss, dann ist es Talent. Zwar scheint er mir bei dem Film noch reichlich unterfordert, aber seine Montagen, die Dramaturgie und vor allem die Suspense-Szenen funktionieren sehr gut. Nun ja, die Schauspielführung kann man geflissentlich ignorieren. Wäre man ganz kleinlich, dann müsste man „Piranha“ seinen Trash-Status absprechen bzw. man müsste ein neues Genre erfinden in das man alle ironisch-gewollten Mainstream-Trashfilme der letzten Jahre rein packen kann. Letztendlich ist das aber auch egal. Ich weigere mich nur „Piranha“ als Trash zu bezeichnen.

„Piranha“ steht somit weder in der Tradition eines „Jaws“ und schon gar nicht eines „Die Vögel“. Der Film ist als große komödiantische Zerstörung ausgelegt. Überwiegend schlägt sich der Zuschauer auf die Seite der Piranhas und hofft auf das nächstes Gemetzel. Die wenigen und dem Überleben-geweihten Figuren tragen nur ein wenig mehr Unschuld in sich als das Fischfutter und trotz der klischeehaften Blässe, wünscht man ihnen nicht den Tod, was wiederum der Spannung hilft.

Es ist natürlich ziemlich Old-School Sex mit dem Tod gleichzusetzen. Das gibt es schon seit „Halloween“. Amerikanische Jugendliche leben halt nicht lange wenn sie ihr Ding überall rein halten, was mit den Brüsten wippt und mit dem Arsch wackelt. Diese puritanische Einstellung hat man dem Horrorfilm von Seiten der intellektuellen Kritik oft übel genommen. Doch „Piranha“ zelebriert diesen Puritanismus mit einem herrlichen Augenzwinkern, indem er auf der einen Seite dem Zuschauer die Nacktbilder liefert, die er sehen will und auf der anderen Seite das ebenso gewünschte Gemetzel. Die armen Filmfiguren haben also gar keine Wahl. Sie müssen ihre schönen Körper zeigen und sterben sollen sie auch noch. Der Böse ist wie immer der Zuschauer.
Dazu führt Aja mit der Einführung des Porno-Produzenten diesen Puritanismus endgültig ad absurdum, wo es sogar zu einem fast mythischen Liebestanz zweier Nymphen unter Wasser kommt, was Aja dann mit dem „Blumen Duett“ aus Libedes Oper „Lakmé“ unterlegt, was für viele Lacher im Kino gesorgt hat.

Dennoch, ein bisschen Ernst ist auch da mit drin, denn zum einen ist diese Sequenz höchst ästhetisch gestaltet, die beiden Frauenkörper sind sowieso sehr ansehnlich und die Musik fungiert hier wirklich als Ausrufezeichen. Es ist die andere Seite der Medaille, neben der Vernichtung des menschlichen Körpers, hier seine Huldigung. Anders als andere Splatterfilme ist „Piranha“ von einem starken dualistischen Körperempfinden geprägt. Die Hauptattraktion des Splatters liegt natürlich darin zu sehen wie ein lebendiger in-sich-geschlossener Körper seine Integrität verliert. Der Porno dagegen brüstet sich mit den unzensierten Zur-Schau-Stellen von nackten Körpern. „Piranha“ bietet beides, wobei da ein klarer Gedanke hinter steckt.

Der Film verachtet Pornografie, Saufgelage, Rumgebalze und die Arroganz des Schönen. Die Piranhas sind nicht gekommen um das Sündhafte zu vernichten. Sie sollen das mediale Abbild eines kommerzialisierten Schönheitsideals zerstören. Sie machen Schluss mit dem Sehen und Gesehen-Werden, der dümmlichen Hemmungslosigkeit, dem Konsumrausch, den Football-Körpern und Bulimie-Figuren. Die Piranhas sind nicht die Rache der Natur. Die Studs sterben nicht, weil sie Müll in den See schmeißen. Sie sterben weil sie gewissenlos-funktionierende Zahnräder des alles zermalmenden Kapitalismus geworden sind, der mit faschistischer Perversion den menschlichen Körper instrumentalisiert. Die Killerfische führen den Körper wieder zurück zum Ursprung, zum Fleisch und Blut. Nachdem ihm der Penis abgebissen und das Silikon heraus gefressen wurde, zeigt sich der Mensch wieder in seiner ungeschönten, unschuldigen Art.

Man darf diese Wut auf den schönen Körper nicht als grundsätzlichen Hass missverstehen. Ajas Film richtet den Körper zwar hin, aber nur sein pervertiertes Abbild. Letztendlich, und darin zeigt sich der angekündigte Dualismus, bewundert und vergöttert er ihn gleichzeitig, was in dem zuvor beschriebenen Nixen-Tanz gipfelt. Diese Sequenz erinnert absichtlich an die Fresken klassischer Renaissance-Malerei, dazu die klassische Musik. Das humanistische Schönheitsideal wird von Aja ebenso verehrt wie von Michelangelo. Bei dem großen Gemetzel am Yachthafen, fügt Aja nochmals ein ähnlich stilisiertes Bild ein. Man sieht den Körper einer Frau unter Wasser, die von den Piranhas zerrupft wird, was wiederum als Schulterschluss zwischen der klassischen Schönheitsästhetik und dem Splatter-Kino angesehen werden kann.

Den große Vernichtungsrausch der Piranhas inszeniert Aja auch etwas Splatter-untypisch. Anstatt sich nur auf den Fun-Faktor zu verlassen, mischt er noch allerhand Leid darunter. Man kommt nie auf die Idee am Schmerz der Opfer zu zweifeln. Wenn ihre Körper zerrissen, ihnen die Haut vom Schädel gezogen oder die Beine abgenagt werden, dann schreien sie und Aja dehnt viele dieser Momente wodurch viele Tode, trotz ihres komödiantischen Tons, einen grausamen Anstrich bekommen. Das wiederum passt hervorragend zum Dualismus des Films.

„Piranha“ ist ein sehr kurzweiliger Splatter-Film, der trotz seines großen Spaß-Faktors unangenehm grausam bleibt und seiner bescheuerten Handlung ein wenig Sozialkritik beimischt. Vielleicht kommen ja die Barsche des echten Viktoria-Sees mal in die Lage sich diese Anleitung zur Vernichtung des Kapitalismus anzusehen.

Wertung: 7/10


"Piranha 3D"

USA 2010

Alejandre Aja

mit Steven R. McQueen, Elizabeth Shue, Jerry O'Connell


Nur im Kino!



Donnerstag, 21. Oktober 2010

THE FOUNTAIN


In seinem 3. Film lässt Aronofsky Hugh Jackman und Rachel Weisz nach der ewigen Liebe suchen und findet doch nur triefenden Kitsch.

Kino hat selten mit Schauwerten zu tun. Bei allem was gezeigt wird, interessiert oftmals mehr das, was nicht gezeigt wird. Es gibt ja den geläufigen Begriff "unverfilmbar". Das ist Quatsch. Unkreative Menschen ohne Fantasie bezeichnen Filmstoffe (z.B. Romane) dann als "unverfilmbar", wenn das geschriebene Wort nicht direkt -ohne interpretative Umwege- in Bilder umsetzbar ist. Das wird gerne bei komplexen Gedanken oder Sinneseindrücken fern der Augen und der Ohren behauptet. Warum schafft es aber eine Feder dies darzustellen? Weil sie verwandelt, interpretiert und abstrahiert. Wörter sind nichts anderes als Abstraktionen der Wirklichkeit. Die guten Filme wandeln das "Unverfilmbare" in Bilder um, die nicht nur zeigen, sondern eher anregen zum inneren Sehen. Es geht nicht wirklich um das, was ich sehe, sondern eher um das was das Gezeigte in mir auslöst. Nur so gelingt es das nicht-gegenständliche, das metaphysische, das surreale zu verfilmen.

Würde man das Drehbuch zu "The Fountain" lesen, käme schnell das Wort "unverfilmbar" in den Sinn. Wie schon gesagt, das ist Quatsch. Man hat verschiedene Möglichkeiten es darzustellen. Aronofsky hat es falsch gemacht. Gerade die Zukunftsepisode entbehrt jeglicher Interpretation. Sie besteht aus hohlen Bildern, die Sinn ergeben sollen. Die esoterische/buddhistische Bildsprache trieft vor Kitsch, da der Regisseur versucht mit bewährten Tricks das Unzeigbare zu zeigen. Selten wagt es der Film seine wahrhaft großen Themen filmisch zu umschreiben, sie verständlich zu interpretieren. Er zeigt sie einfach mit allen Mitteln der CGI-Technik. Wie ein kleines Kind, was mit Buntstiften Gott malt. Wen interessiert das schon?

Nur in der Gegenüberstellung der 2 weiteren Epochen gelingen die guten Momente des Films. Wenn Aronofsky z.B. ein und die selbe Kamerabewegung 3-mal benutzt. Da ergeben sich Gleichnisse und Umschreibungen zu denen nur der Film in der Lage ist.
Trotz des hohen Budgets kommt das Szenenbild eher kläglich daher. Vieles wurde nachträglich digital eingefügt um sich die teuren Studiobauten zu sparen. Dabei hätte eine Waldlichtung mehr den südamerikanischen Dschungel ganz anders aussehen lassen.

Es gibt eigentlich nur eine Szene, die filmisch gelungen ist. Das ist die Audienz bei der spanischen Königin, der edle, geheimnissvolle Thronsaal mit den vielen hängenden Kerzen, den Säulen und dem Käfig der Königin, Rachel Weisz Gesicht hinter den Mustern, wunderschön. Obwohl der Dialog zwischen Herrscherin und Ritter rein handlungsoriertiert bleibt und schwerlich als Poesie bezeichnet werden kann, zeigen die beiden Hauptdarsteller hier ihr wahres Können. Eine tiefe innige Verbundenheit, eine Liebe, die keine sein kann, das alles vermitteln die beiden Schauspieler nur über ihre Augen und Aronofsky findet die richtigen Bilder sie in Szene zu setzen.

Es ist schade wie vergeudet der Rest des Films dabei wirkt, mit seiner schwerfälligen Symbolik und aufdringlichen Ernsthaftigkeit. Hier sind eindeutig die Regie-Pferde mit Aronofsky durchgegangen. Einzig die Filmmusik bleibt auf hohem Niveau und arbeitet mit der angemessenen Abstraktion. Sie vermittelt ohne zu zeigen.

Wertung: 4,5/10


"The Fountain"
USA, CH, 2006
Darren Aronofsky
mit Hugh Jackman, Rachel Weisz, Ellen Burstyn


Auf DVD und Blu-Ray erhältlich!


Sonntag, 17. Oktober 2010

THE SOCIAL NETWORK


Nach dem seltsamen Durchfall des „Benjamin Button“, ergründet Fincher das Web2.0 aus einer ganz irdischen Perspektive.

Es scheint gerade einen neuen Trend unter den Kritikern zu geben. Das ist mir im Zuge der überschwänglichen Rezeption von Finchers neuem Film „The Social Network“ aufgefallen.
Hier und da liest man, dass Finchers größter Verdienst darin liegt, dass er sich selbst so weit wie möglich zurückgenommen hat. Das wird dann als Reife interpretiert. Ja, „The Social Network“ sei Finchers bisher reifste Regiearbeit. Reifeprüfung bestanden, folgt nun der Highway to boredom? Denn wenn sich inszenatorische Reife im reinen Reduzieren filmischer Mittel zeigt, dann kann ich getrost auf reife Filmemacher verzichten.

Natürlich „The Social Network“s Stärken liegen im großen und ganzen in seinem Reduktionismus, nur Fincher wirkt nicht so als wäre er reifer geworden (das war er vorher schon). Allerdings hat sich die Regie auch hier und da Schwächen geleistet und das dominante Drehbuch von Aaron Sorkin nicht genügend in die Schranken gewiesen, Beispiel gefällig? Sorkin scheint mehr mit dem Theater verwurzelt als mit dem Kino. Das zeigt sich positiv in seinen langen und dichten Dialogen, aber das zeigt sich auch negativ im vollkommenen Ausblenden einer Bildebene. Als Sean Parker von Facebook erfährt, schreibt er sich die Kontaktdaten von Mark Zuckerberg auf. Anstatt Fincher das einfach filmt, kann ja nicht so schwer sein, Sean holt einen Stift raus und schreibt sich den Namen auf, nur zwei simple Einstellungen und der Zuschauer weiß was Sache ist. Nein, Sorkin lässt Parker so etwas sagen wie „Ich finde dich Mark Zuckerberg.“ Wohlgemerkt, es ist niemand im Raum. Er spricht also zu sich, führt Selbstgespräche, passt auch zur Rolle, dennoch handwerklich spricht er es zum Publikum, was übersetzt heißt: „Hey, die Kamera bleibt die ganze Zeit auf meinem Gesicht und kann jetzt nicht zeigen, wie ich einen Zettel raus hole und den Namen aufschreibe. Wir wollen weniger filmische Mittel einsetzen, dass ist unser Stil.“ Der Film hat öfter solche Momente, wo manche Sätze etwas deplatziert wirken und man mehr auf Bilder hätte vertrauen müssen.

Wie eben erwähnt scheint das dem Stil geschuldet zu sein. Ich schätze Fincher und Sorkin so reif ein, dass sie wissen was sie tun. Ich respektiere jeden Stilwillen, wenn er angebracht ist und auch durchgezogen wird. Nur leider leistet sich Fincher im Mittelteil eine rein filmische, hervorragend montierte und brillant fotografierte Sequenz eines Ruderbootrennens, was stellvertretend für die Niederlage zweier reicher (aber amüsanter) Zwillingsschnösel dienen soll. Das ist natürlich super gemacht. Ich liebe solche Sequenzen und ich finde sie auch wunderbar passend. Allerdings wenn sich Fincher schon so was leistet, warum kann er nicht auch dem Autor erklären, dass man innere Monologe besser für sich behält?

Ansonsten hat Mr. Sorkin einen großartigen Job geleistet, sei es bei der Erzählstruktur des Films, den messerscharfen und schnellen Dialoge, den subtilen Charakterisierungen oder der gründlichen Recherche. Da Fincher und Sorkin beide nicht zur Generation der „digital natives“ gehören, verwundert es nicht, dass sie sich herzlich wenig für das eigentliche Facebook interessieren. Zwar strotzt der Film immer noch vor technischen Vokabeln und Computerbildschirmen, aber das ist nie so wichtig wie das soziale Geflecht zwischen den Figuren.

Darum geht es schließlich in „The Social Network“. Es mag schade sein, dass die eigentlich laufende Datendebatte und Privatsphären-Demontage es nicht in den Film geschafft haben und wenn dann nur am Rande, aber es ist wirklich so, dass Mark Zuckerberg ebenso ein Spülmittel hätte erfinden können, der Film wäre fast derselbe.

Sorkin hat sein Drehbuch gründlich von allem Zeitgeist entschlackt und es auf die universalen Themen Freundschaft, Verrat, Neid und Gier reduziert, der Stoff aus dem große Dramen sind. Dabei begeht er nie den Fehler der Dichtung die Führung zu überlassen. Das Melodram gewinnt nie die Oberhand. Die Konflikte bleiben subtil, realistisch und im historischen Kontext nachvollziehbar. Dadurch zeichnet „The Social Network“ natürlich ein präzises Bild unserer Gesellschaft. Historisch wird das ganze aber erst in 20 Jahren interessant sein.

Auf der reinen dramaturgischen Ebene ist Sorkins Buch schon ein Meisterstück. Ohne das es eine dramatische Fallhöhe für die Protagonisten gibt, niemand ist in Gefahr zu sterben oder alles zu verlieren, ist der Film ein Thriller, was die Spannung betrifft. Die zwei Stunden vergehen wie im Flug, da permanent die Aufmerksamkeit des Zuschauers gefragt ist, sei es aufgrund der komplexen Erzählstruktur oder der schnellen Dialoge. Sorkins Texte gaukeln uns stets vor, dass es um überlebenswichtige Dinge geht. Nun gut, wir wissen Facebook wird ein Milliardengeschäft, aber überlebenswichtig? Hier arbeitet ein Autor perfekt im Geiste des Publikums, manipulativ und höchst effektiv.

Auffällig bleibt doch, dass bis auf Zuckerberg, die restlichen Figuren relativ oberflächlich behandelt werden, was bei fiktiven Figuren grässlich werden kann. Bei realen Personen fände ich es dagegen anmaßend ein komplettes psychologisches Profil zu skizzieren, was dann ohnehin nicht authentisch ist, da man den Leuten ja schlecht in die Köpfe gucken kann. Als Autoren-Gott kann man seine fiktiven Figuren psychologisieren wie man will, lebende Personen genießen da doch eine gewisse Immunität. Auf der anderen Seite deutet Sorkin auch viel an und überlässt gleichzeitig viel dem Zuschauer, der sich ein eigenes Bild von Zuckerberg, Parker und Saverin bilden kann.

Betrachtet man Finchers letzte Werke, „Benjamin Button“ und „Zodiac“, so ist auffällig, dass die Handschrift der Drehbuchautoren sichtbarer geworden ist. Bei „The Social Network“ hat sich das noch verstärkt, denn eigentlich ist das ein „Fincher/Sorkin Picture“.
„Zodiac“ skizzierte noch viel präziser ein historisches Bild und baute stark auf das faktenreiche Drehbuch von James Vanderbilt. In „The Curious Case on Benjamin Button“ zeichnete sich Eric Roth („Forrest Gump“) als Autor verantwortlich, wodurch der Film ja so schrecklich wurde. Die Autorenkräfte werden stärker. Indirekt proportional scheint dagegen Finchers Handschrift zu schwinden, was ja, wie eingangs erwähnt, viele Kritiker als Reifezeugnis miss-interpretieren.

Finchers Handschrift ist immer noch gleichstark. Wenn es einen Film gibt, der wenig Fincher in sich trägt, dann ist es „Alien 3“. Zwar besitzt dieser Film die schon charakteristische Bildsprache, aber inhaltlich hat der Film wenig mit Fincher zu tun. Ich finde es wichtig zu erkennen, dass sich die Handschrift eines Regisseurs nicht nur in seinen Bildern zeigt, sondern auch in der Wahl seiner Inhalte. Im Zentrum von Finchers Filmen steht meistens eine kranke Seele. Dazu kommt das seine Helden meistens im Doppelpack auftreten, siehe „Fight Club“, „Sieben“, „Zodiac“, „Panic Room“. Eigentlich dreht er Buddy-Movies. Darin steckt natürlich, ähnlich wie bei Cronenberg, eine Idee der Dualität, jede Figur, je eine Seite einer Medaille. Natürlich sind das keine festgelegten Zutaten für einen Fincherfilm. Es sind Indizien und Fincher selbst befolgt sie mal mehr mal weniger. Sicher ist, dass sich alle Filme von ihm inszenatorisch ähneln und das er seinen Stil zwar auf jeden Film anwendet, ihn aber nach dem Inhalt modifiziert.

Wichtig zu nennen wäre auch das Element der Kamera. Lange bevor Fincher Kinofilme drehte, hatte er die Zeit sich einen visuellen Stil zu erarbeiten. Interessant scheint schon mal, dass er nicht immer mit dem selben Kameramann arbeitet, Alex Thomson (Alien 3), Darius Khondji (Sieben, Panic Room), Harris Savides (The Game, Zodiac), Jeff Cronenweth (Fight Club, The Social Network), Claudio Miranda (Benjamin Button).
Während Khondji eine stilisierte (und manchmal sich verselbstständigende) Kamera bevorzugt, arbeitet Cronenweth gerne mit statischen Perpsektiven und einem hohen Grad an Tiefenunschärfe. Savides dagegen ist ein Grafiker. Er sucht gerne die Symmetrie und Parallelen, was solchen Filmen wie „The Game“ und „Zodiac“ sehr entgegenkam.

Film bleibt also eine Gemeinschaftsarbeit und die Auswahl des Teams entscheidend für seine Gestalt. Hitchcock drehte fast immer mit dem selben Team und seine Filme ähnelten sich stilistisch dementsprechend, was vom Großmeister, der laut Truffaut stets den gleichen Film gedreht hatte, natürlich beabsichtigt war.
Fincher ist anders. Seine „camera stilo“ ist wandelbarer, was solch unterschiedliche Filme wie „Panic Room“ und „Zodiac“ zustande brachte. Das waren ja auch inhaltlich sehr unterschiedliche Filme. „Panic Room“ hätte man nie so reduktionistisch wie „The Social Network“ oder „Zodiac“ drehen können. Das wäre eine Maske gewesen, die dem Film nicht gut gestanden hätte. Fincher war also nicht „unreif“ als er „Panic Room“ gedreht hat.

Ein anderes Beispiel sind seine zwei Serienkiller-Filme, „Sieben und „Zodiac“. Thematisch ähnlich, aber grundverschieden umgesetzt. „Sieben“ war eine Versuchsanordnung, eine Drehbuchkonstruktion, rein fiktiv also, mit einem ständig verregneten New York, aufwändigen Décors, einem tickenden Metronom und einer U-Bahn, die durch die Wohnung rauscht. So was wird erfunden und artifiziell fotografiert. Dagegen „Zodiac“ als detailgetreue Rekonstruktion mit einem Kaleidoskop-artigen Figurenreichtum, trockener Bildsprache und vielen Fakten. Zwar behandeln beide Filme die Ohnmacht der Polizei gegenüber einem kranken Genie, aber dadurch, dass das eine frei erfunden und das andere wirklich passiert ist, fällt die Umsetzung so unterschiedlich aus.

Finchers nächstes Projekt wird die Verfilmung von Stieg Larsons „Verblendung“, einem fiktiven Roman mit klassischer Kriminalhandlung. Dieser Film wird sich enorm von „The Social Network“ absetzen, ebenso von „Zodiac“. Man kann etwas in Richtung „The Game“ erwarten, denke ich. Was heißt das? Fincher wird wieder unreif und infantil? Natürlich nicht, er macht einfach sein Ding und das macht er verdammt gut.

Wertung: 8/10


"The Social Network"

USA, 2010

David Fincher

mit Jesse Eisenberg, Andrew Garfield, Justin Timberlake


Nur im Kino!



Sonntag, 3. Oktober 2010

ENTER THE VOID


Gaspar Noés neues Grenzwerk beginnt als beeindruckende Meditation über filmische Wahrnehmungen und endet leider im blanken Manierismus.

Ganze acht Jahre ist es schon her, dass der französische Experimentalfilmer Gaspar Noé mit „Irreversibel“ die Kinowelt in Aufruhr versetzte. Der konsequent rückwärts-erzählte Film untersuchte Gewalt-Mechanismen im Kontext einer unaufhaltsamen Schicksalsspirale.

Der Kameramann Benoit Debie gestaltete den Film als quasi lückenlose Gesamterfahrung, die durch unsichtbare Schnitte den Eindruck einer kompletten Plansequenz ergab. Dazu tritt die Kamera hier stets als Subjekt auf, was nicht heißt, dass der Kamerablick dem Blick einer handelnden Figur gleichkommt, viel eher wird man sich der Kamera immer wieder bewusst gemacht. Durch auffällige Schwenk-, Neig- und Kreisbewegungen kommt man als Zuschauer gar nicht umhin nicht auf die Kamera zu achten. Sie existiert als sichtbares Fenster zur Filmwelt.

Bei „Irreversibel“ spielte die Kamera in der ersten Hälfte verrückt und bewegte sich so als würde sie dem Publikum die Orientierung verweigern. Erst allmählich wurde die sie immer ruhiger bis sie zum Schluss nur noch dokumentarisch auftrat.

Ein engagiertes Kamera-Konzept hat auch „Enter the Void“ zu bieten und auch hier zeigt sich Debie für die Gestaltung verantwortlich. Während die Kamera in „Irreversibel“ nur subjektiviert war, wird sie in Noés neuem Film wirklich zu einer Subjektiven, nämlich zum Blick der Hauptfigur.

Oscar lebt in Tokio und verdient sein Geld als Drogendealer. Mit dem Geld will er zudem seine Schwester zu sich holen. Beide wurden als Kinder getrennt als die Eltern bei einem Unfall starben. Doch sie gaben sich das Versprechen immer für einander da zu sein. Die Wiedervereinigung der Geschwister kann aber nur schwer das frühkindliche Paradies zurückbringen und so werden die beiden vom Nachtleben Tokios aufgesogen.

Der Film teilt sich drei Teile und untersucht verschiedene Bewusstseinsströme. Zu Beginn sehen wir konsequent aus der Perspektive Oscars, sogar das Augenblinzeln wird durch Abdunkeln der Leinwand dargestellt. Alles scheint in Echtzeit abzulaufen, wodurch das subjektive Zeitgefühl durch einen gelegentlichen Drogenrausch Oscars stark verändert werden konnte. Dieser erste Teil entspricht der visuellen Gegenwartswahrnehmung eines jeden Menschen.

Im zweiten Teil ändert die Kamera nur leicht ihre Position. Sie stellt sich direkt hinter Oscar und nimmt seinen Hinterkopf ins Bild. Nur durch eine kleine Veränderung der Position ändert sich der Bildeindruck erheblich. Die Kamera ist nun objektiv, aber nur im Bezug auf die gedankliche Version Oscars. Denn wie sich herausstellt ist auch diese Perspektive eine Subjektive. Es ist der Blick Oscars der sich erinnert, dessen Leben an ihm vorbeirauscht. Hier darf der Film ja nun unvermittelt in der Zeit springen, ein Lidschlag, eine andere Erinnerung.

Im letzten und längsten Teil des Films bleibt die Kamera zwar subjektiv, sie zeigt nur nicht mehr die Perspektive eines lebenden Menschen, sondern wird zum Auge einer wandernden Seele, die nun die Hinterbliebenen beobachtet. Hier wird die Kamera nun endgültig entfesselt. Debie durchdringt mit seiner Linse Häuserwände, menschliches Fleisch, kann in luftige Höhen gleiten und mit Lichtquellen durch die Zeit reisen.

Noé geht es natürlich hauptsächlich um diesen Teil. „Enter the Void“ möchte den Tod erfahrbar machen oder viel eher die Suche der Seele nach Reinkarnation. Dabei bietet der Film gerade in den ersten beiden Stücken seine stärksten Momente. Denn hier nimmt sich zum ersten Mal ein Filmemacher die Zeit sich mit subjektiver Wahrnehmung im Film auseinander zu setzen.

Der 1947er film noir „Lady in the Lake“ von Robert Montgomery hat Noé persönlich sehr beeinflusst. Schon dieser Film wurde komplett aus der Subjektiven des Helden erzählt. Laut Wikipedia soll dann noch eine Portion Pilze nachgeholfen haben, wodurch Noé auf die Idee kam seinen Jenseits-Film auch aus dieser Perspektive zu erzählen.

Es liegen dennoch zwischen beiden Filmen Welten. Obwohl beide eine kohärente Geschichte erzählen, bewegt sich das klassische Vorbild auf weitaus konventionellerem Terrain. Denn Noés strenge Durchführung seines formalistischen Konzepts kann sich nie die Freiheit erlauben Kompromisse gegenüber der Handlung einzugehen, was gerade im späteren Verlauf dem Film enorm viel Wind aus den Segeln nimmt.

In den ersten beiden Teilen des Films wird sehr eindrucksvoll klar inwieweit die Subjektive im Kino bekannten Wahrnehmungsbildern ähnelt. Lässt man sich darauf ein so kann man als Zuschauerperson gänzlich verschwinden und sich komplett in der Perspektive des Protagonisten verlieren. Meine Kinobegleitung kommentierte das äußerst punktiert und mit einem leichten ironischen Unterton am Ende der Vorstellung: „Ich hatte schon die Befürchtung, ich selbst würde vergessen zu blinzeln, da das ja der Film schon für mich erledige.“

Obwohl fast abwesend lohnt sich gerade zu Beginn ein genauer Blick auf den Schnitt. Denn auch wenn die eigene Subjektive keine Ortswechsel und Zeitsprünge erlaubt. So arbeitet Noé mithilfe des imtierten Lidschlags an einem klaren Schnittrythmus. Denn jede mikrosekündliche Ab-und Aufblendung der Leinwand erzeugt Brüche in der Zeitwahrnehmung, was Noé meisterhaft zum kaum bemerkbaren Raffen der Handlung nutzt (z.B. der Weg von Oscars Wohnung ins Void).

So ist es doch auch in der Realität. Nicht nur das die eigene Wahrnehmung um ca. eine halbe Sekunde verzögert ist, da unser Gehirn die Sinneseindrücke erstmal verarbeiten muss, nein, auch unser Lidschlag gleicht einer Montage, nicht nur visuell sondern auch mental.

Wenn man Schauspieler mal genauer beobachtet, dann sieht man wie sie ihren Text in Gedankenpakete aufteilen, die je nach Aktion und Reaktion aufgegriffen und verworfen werden. Dieser Gedankenwechsel wird meistens durch einen Lidschlag unbewusst sichtbar. Deshalb nutzen so viele Cutter auch den Lidschlag als Moment eines Perspektivenwechsel, ein Lidschlag, ein neuer Gedanke. Dadurch kommt es realtiv selten vor, dass man Schauspieler in Filmen blinzeln sieht.

Nun bei „Enter the Void“ ist der Lidschlag nicht nur sichtbar, er fragmentiert, er strukturiert, er täuscht. Wirklich klar wird dieses Konzept im zweiten Teil des Films, wenn Noé den retrospektiven Blick Oscars mithilfe der Lidschläge wandern lässt, bei jedem Blinzeln, eine andere Erinnerung.

Im letzten Teil verschwindet der Lidschlag von der Leinwand. Eine Seele hat keine Augen mehr, aber sie scheint noch einen Blick und somit eine Subjektive zu haben. Hier betritt der Film metaphysische Gefilde, die nicht mehr der eigenen Wahrnehmung gleichen. Ab hier strukturiert sich der Film nur noch in vereinzelte Episoden, die durch Zeitsprünge getrennt sind.

Ohne den Lidschlag muss Noé ab jetzt alles so wirken lassen, als würde es in Echtzeit geschehen. So impliziert jede Reise an einen anderen Ort, eine Kamerafahrt durch Häuserwände und über Dächer. Wie schon zuvor beschrieben ist das bei einem Zeitsprung weitaus komplizierter. Hier greift Noé auf einen Trick zurück und behauptet einfach, die Seele könne mithilfe von Lichtquellen Zeit überbrücken (Ähm ja...). Schlecht sieht das ja auch nicht aus. Die enorme Weitwinkel-Verzerrung beim Vertigo-Effekt vor dem Eintritt ins Licht, sieht sehr gut und suggestiv aus, doch nach dem 10. Mal wird es hohl.

Da sind wir schon bei der größten Schwäche von „Enter the Void“. Noé hat sich ein so strenges stilistisches Konzept auferlegt, dass es unmöglich eine Handlung füllen kann. Besonders, da die wirkliche Handlung erst mit dem letzten Teil anfängt. Alles davor war nichts anderes als eine beeindruckende Exposition. Eigenartigerweise scheint Noé die Story wichtig zu sein oder die Figuren jedenfalls. Allerdings trifft das nicht auf den Zuschauer zu, der die 80 Minuten davor mit effektivem Wahrnehmungskino geplättet wurde.

Abgesehen davon, dass sich eine Subjektive überhaupt nicht zur Identifizierung eignet, auch wenn man das zuerst denken mag. Am besten identifiziert sich das Publikum mit Filmfiguren, die sie objektiv verfolgen und beobachten können. Auf der anderen Seite eignet sich ein Drogendealer sowieso schlecht als Sympath. Aber auch die anderen Figuren kommen durch die strenge Kameraarbeit, die meistens von oben filmt, schlecht rüber. Ein Mitfühlen und Fiebern wird somit absichtlich verhindert.

Was bleibt ist eine uninteressante Handlung, die an einem mit den immer gleichen Manierismen vorbeirauscht. Über 80 Minuten wird dem Zuschauer nichts neues, nichts einnehmendes oder folgenswertes geboten. Gerade zum Schluss wird es schlimm, wenn Noé eine Reihe von Sexszenen zeigt, die durch digital-leuchtende Genitalien reichlich verkitscht werden.

Ich will gar nicht gegen die experimentelle Seite des Films wettern. Das Problem sind nicht die avantgardistischen Formspielereien, sonder eher die Handlung. „Enter the Void“ glaubt bis zuletzt eine Geschichte erzählen zu müssen, was er gar nicht nötig hat. Dadurch dehnt sich der Film unerträglich und endet genauso unvermittelt wie er begann.

Vielleicht hätte ein bisschen weniger Melodram und ein bisschen mehr „Letztes Jahr in Marienbad“ gut getan. Gute Experimente brauchen sich nicht mit kitschig-konventionellen Plots beim Mainstreampublikum einschleimen. Das hatte der schlechtere „Irreversibel“ sogar „Enter the Void“ vorraus.

Ich bin zwar kein großer Fan von Gaspar Noé, aber beginnend mit dem heftigen Opening bis zur Hälfte des Films wird ein intellektueller Mindfuck geboten, der sich gewaschen hat. „Enter the Void“ ist Noés bisher bester Film und ein Fest für die Sinne.

Wertung: 6,5/10

Nur im Kino!


"Enter the Void"

FR, 2009

Gaspar Noé

mit Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy


Dienstag, 21. September 2010

JUD SÜß - FILM OHNE GEWISSEN



Roehlers "Jud Süß"-Making-Of ist vielleicht das mutigste, was sich ein deutscher Regisseur im Historiengenre in letzter Zeit getraut hat. Zu schade, dass "Inglorious Basterds" früher ins Kino kam, so müssen sich die Macher wohl einige Anschuldigungen gefallen lassen, sie schwimmen im Fahrwasser eines Tarantinos, dabei wurden beide Filme fast gleichzeitig gedreht und als Inglorious Basterds" ins Kino kam, war "Jud Süß" schon abgedreht.

Naja, die weiteren Anfeindungen belaufen sich auf die typische Anklage der Geschichtsverfälschung, wobei, wie schon gesagt, das doch seit Tarantinos Film ohnehin nicht mehr gilt, oder wollen wir diesen Diskurs an der Nationalität des Regisseurs festmachen? Ich hoffe nicht!

Wo Tarantino den Historienfilm in einen Italo-Western packt, geht Roehler weitaus reflektierter vor. Der Film handelt schließlich von einem Propagandafilm, also inszeniert er seinen Film auch so. Roehlers Film ist ein Propagandafilm par excellence, für die andere Seite versteht sich, für die politisch korrekte, wobei die gar nicht so leicht abzustecken ist.
Er hält sich kaum an Fakten und konstruiert seinen Film zu einem manipulativen Melodrama, wo sich die anfänglich helfenden Nazis für Marian zum Ende hin als Monster entpuppen, ähnlich wie die Hauptfigur des Süß im Originalfilm.

Die Kinobilder sind künstlich entsättigt und wirken wie Parodien bekannter deutscher Geschichtsbilder. Die Schauspieler bewegen sich auf allen Niveaus. Bleibtreus Goebbels ist eine skurrile Figur, mit der Kraft des Overactings. Umso auffälliger wirken da Moretti und Gedeck, die ihre Rollen ernst nehmen.

Der Film bietet eine Unmenge an Angriffspunkten, einen Haufen Schwächen, doch es hier fällt es mir wirklich leicht nur den Gesamteindruck zu bewerten. Denn ohnehin präsentiert sich Roehlers Film als deutsches Kinomoment des Jahres, nicht aus qualitativer Sicht, sondern eher aus utilitaristischer.

Was dem Film wirklich schadet ist sein Schwebezustand zwischen Blockbuster und Autorenfilm. Roehlers "Jud Süß" scheitert vielleicht an dieser Unentschlossenheit. Ich wünschte mir er hätte sich mehr getraut und weniger auf die Passionsgeschichte seiner Hauptfigur gesetzt. Allerdings ist das, was er sich traut für einen Mainstream-Film schon sehr viel.

Wie schon gesagt, es fällt leicht den Film nicht zu mögen. Er ist radikal. Er entblößt das moderne Nazi-Kino from Germany als andere Form des Propagandafilms. Er ist eine bösartige und manchmal witzige Satire zwischen Porträt und Melodram, mit bösen Seitenhieben in die Rippen der damaligen Filmindustrie, Veit Harlan als schmieriger Mitläufer, Schauspieler als Karriere geiles Pack, Michelango Antonioni als "Jud Süß"-lobender Kritiker, Bad Ass Roehler!

Der Film hat eigentlich gar keine 7 Punkte verdient, doch er war die größte Überraschung auf der diesjährigen Berlinale. Letztendlich: Sehenswert!


Wertung: 7/10



"Jud Süß - Film ohne Gewissen"
BRD, 2010
Oskar Roehler
mit Tobias Moretti, Martina Gedeck, Moritz Bleibtreu



Ab 23. September nur im Kino!


Sonntag, 29. August 2010

RUBBER


Anhand einer Synopsis zu erklären was in „Rubber“ passiert, ist so sinnvoll wie ein lebendig gewordener Autoreifen mit telekinetischen Fähigkeiten. Nein, für einen Einblick in Quentin Dupieuxs Debüt eignet sich nur der hervorragende Teaser.

Nach dieser kurzen und intensiven Einführung bleiben dem Leser nur zwei Möglichkeiten. Wer vom Gesehenen fasziniert war, wird mir sicher mit voller Bereitschaft tiefer in den Kaninchenbau folgen. Wer verstört mit dem Kopf schüttelte, liest diesen Absatz wohl bereits nicht mehr und dreht schon seine Runden auf YouPorn oder sonstwo.

Na gut, bleiben nur wir übrig. Ohne ein großes Geheimnis darum zu machen, will ich schon mal anmerken, dass „Rubber“ der beste Film der letzten sieben Jahre ist und er wird es wohl auch schaffen zum besten Film 2010 zu avancieren.

Quentin Dupieux alias Mr. Ozio ist eigentlich ein französischer Musiker. Auf der einen Seite ist es verwunderlich, dass „Rubber“ so abgeklärt und selbstbezogen daher kommt. Filmemacher hinterfragen selten das Kino an sich bereits in ihrem ersten Film. Andererseits ist das in der Postmoderne wahrscheinlicher geworden und vielleicht liegt es auch an Dupieuxs Außenseiter-Perspektive, dass „Rubber“ ein Kommentar und kein Beitrag zum Kino geworden ist.

Ähnlich wie bei „Funny Games“ hat auch bei „Rubber“ das Publikum seine Unschuld verloren. Doch wo Haneke den Zuschauer direkt anklagt und quasi das Sehen des Films selbst moralisch hart verurteilt, geht „Rubber“ nicht so radikal vor und versucht eher die Kommunikation zwischen Leinwand und Zuschauerschaft zu thematisieren. Denn obwohl Dupieux und seine fiktiven Helden sich oftmals lustig über das Publikum machen und der Oberschurke des Films letztendlich das Publikum selbst ist, bleibt „Rubber“ stets eine Liebeserklärung an die Imagination des Zuschauers, denn er ist es, der den Film zum Leben erweckt.

Aus einem leblosen Gummireifen wird Robert, aus einer bloßen Abfolge von Bildern entsteht ein Film. Es ist wie mit dem bekannten Baum im Wald, der umfällt, aber nicht gesehen und gehört wird. Ist er dann überhaupt umgefallen? Genauso inexistent ist ein Film, der in einem leeren Kinosaal gezeigt wird.

Ich finde es immer sehr leidlich, wenn hoch gebildete Bildungsbürger mit reichlich Bildung das Kino als Kunst zweiter Klasse bezeichnen, als passive Kunst, wo sich der Zuschauer nur berieseln lassen braucht, während das geschriebene Wort dem Leser einiges an Fantasie abringt. Dabei zeigt „Rubber“ auf sogar sehr lustige Weise, wie viel der Zuschauer dem Film hinzufügen muss um ihn zum Leben zu erwecken. Selbst seltsamsten Wendungen und Schnitten versucht das Publikum mit Kraft seines Geistes einen Sinn zu geben und selbst wenn ein Film so unverschämt ist und uns bereits zu Beginn sagt, dass dies alles gar keinen Sinn haben wird, versuchen wir weiterhin zu verstehen, zu interpretieren und zu analysieren. Die von „Rubber“ gestellte Herausforderung kann man entweder als schamlose Arroganz begreifen oder als Kompliment an sein Publikum. Ich entscheide mich für letzteres.

„Rubber“ ist das Werk eines äußerst kritischen Künstlers, der dem Kino gleichzeitig hoffnungslos verfallen scheint. Eigentlich kann man sich gar nicht vorstellen welchen Film Dupieux als nächstes drehen wird, da er das Kino bereits bis in seine tiefsten Provinzen erkundet hat. Vielleicht war dies aber auch sein einziger Film. Andererseits würde ich mich über mehr Filme dieses neuen Talents freuen.

Ähnlich wie Nolan bei „Following“ hat auch Dupieux mit einem geringen Budget drehen müssen und Regie, Buch, Kamera, Schnitt und Musik selbst in die Hand genommen. Das Resultat ist nie unfreiwillig billig, bietet tolle Darsteller, abstrakte Bilder und einen starken Score, doch kann man „Rubber“ schlecht an seinem Handwerk und ihren Komponenten beurteilen. Dieser Film ist mehr als die Summe seiner Teile.


PS: Da der Film bis jetzt nur auf Festivals gezeigt wurde, hat er seine ganze Auswertung praktisch noch vor sich und obwohl er in der Schweiz bereits einen Kinoverleih gefunden hat (sehr löblich), bezweifle ich, dass der Film in der reaktionären Kinolandschaft Deutschlands einen Platz bekommt. So bleibt nur die Hoffnung auf einen guten Release auf DVD und Blu-Ray.

Doch, ein letzter Hinweis an alle Verleiher: Die Vorstellung auf dem FantasyFilmFest in Berlin war restlos ausverkauft (was sonst nur noch „Enter the Void“ schaffte). Das zeigt also, dass das Publikum wirklich etwas Neues sehen will. Es lechzt förmlich danach. Gebt „Rubber“ doch eine Chance!

Wertung: 9,5/10



"Rubber"

FR, 2010

Quentin Dupieux

mit Roxanne Mesquida, Stephen Spinella, Robert

Donnerstag, 5. August 2010

MOON



Allein das Poster von "Moon" beschwört alte Zeiten herauf, für einen Science-Fiction-Film doch recht unerwartet. Nur betrachtet man das Plakat genauer, entpuppt sich das Nostalgie-Element mehr als lässige Retroness.

Duncan Jones setzt diesen Aspekt auch filmisch um, aber inwieweit man hier von Retroness sprechen kann ist fraglich. Viel eher ist dieser "alte" Charme der langen Abstinenz guter Genre-Beiträge geschuldet.

Denn während Chris Nolan mit "Inception" das Blockbuster-Kino erneuert, wird durch "Moon" der Hard-Sci-Fi wieder zum Leben erweckt. Das ist aber auch nur die halbe Wahrheit.
Nochmal zur Definition: Als harte Science-Fiction werden Werke bezeichnet, die ein großes Augenmerk auf wissenschaftliche Genauigkeit und auf die tatsächliche Realisierbarkeit der technischen Neuerungen legen. Es steht also weniger die fantastische Ausschlachtung des Genres ("Star Wars") oder die Entwicklung einer Utopie/Dystopie im Vordergrund ("Blade Runner"), sondern der Einfluss neuer Technologien.

Nun kann Jones, wie zuvor erwähnt, die Definition nur zur Hälfte bedienen. Sowieso ist reine Hard-Sci-Fi eine ganz mühselige Sache, die wohl nur Nerds hinterm Ofen hervorlockt. In "Moon" geht es in erster Linie um die Hauptfigur Sam Bell, gespielt von Sam Rockwell. Die Technik muss hinten anstehen, hat aber auf das Leben unseres Protagonisten einen gravierenden Einfluss. So viel sei gesagt.

Wer den Film gerne anhand seines Twists und seiner Handlungsführung kritisieren möchte, soll das tun, aber ohne mich. Die clever gebaute Geschichte macht keine Geheimnisse und auch Jones schien kein Interesse daran gehabt zu haben, den Zuschauer lange auf die Folter zuspannen oder seine Wendungen als Ässe auszuspielen. Hier wird das Publikum nie auf eine falsche Fährte gelockt und bis zur Auflösung bei der Stange gehalten um dann fallen gelassen zu werden. Jones ist kein Shyalaman.

Trotz der fast schwerelosen Erzählweise des Films kommt nie ein Funken Langeweile auf. Die Dramaturgie funktioniert tadellos und rafft an den richtigen Stellen, z.B. wird nicht zu viel Zeit für die Exposition vergeudet. Die Einführung in Sams Welt wird elliptisch voran getrieben. Es sind eh die bekannten Einstellungen eines jeden Tagesablaufs. Nach gut 10 Minuten geht schon die eigentliche Handlung los.

Ehrlich gesagt hat "Moon" nur sympathische Schwächen zu bieten. Das was dem Film am meisten schadet ist die eingangs erwähnte Retroness. Beim Schauen des Films hat man nie das Gefühl etwas neues zusehen. Obwohl der Film der erste Hard-Sci-Fi nach langer Durststrecke ist, legt Jones es nicht an das Genre in neue Sphären zu führen. Besonders stilistisch fallen diese Mängel auf. Das Heraufbeschwören von Klassikern wie "Solaris", "2001" und "Silent Running" hat zwar einen cineastischen Charme, aber das Bild der originären Vision leidet darunter. So suhlt sich "Moon" oft in seiner Retrospektive, z.B. wenn er klassische Musik durchs Weltall säuseln lässt, ein geliebtes Klischee. Dennoch, auch wenn Duncan Jones auf Altbewährtes zurückgreift, beeindruckt sein Film durch die ergreifende Geschichte.

Mit dem Erscheinen des zweiten Sams gewinnt der Film ungemein an Fahrt und wandelt sich zum feinen Drama. "Moon" ist der erste Film den ich kenne, der sich so genau mit den psychischen Konsequenzen des Klones beschäftigt und es sogar wagt beide Kopien aufeinander treffen zulassen. Die Szenen zwischen Rockwell und Rockwell gehören somit zu den stärksten des Films. Ähnlich wie Jeremy Irons in "Dead Ringers" gelingt Rockwell die klare Zeichnung zweier unterschiedlicher Charaktere. Obwohl der Film uns visuell hilft (der eine ist ein körperliches Wrack, der andere ist frisch geschlüpft), stellt Rockwell sie als zwei unterschiedliche Figuren dar.

Allein darin steckt die Kernessenz von Jones Klon-Psychogramm. Er formuliert das Klonen nicht als der Geburt menschlich unterlegenen Entstehungsprozess. Trotz der gleichen Erinnerungen und des identischen Äußeren ist jeder Klon anders und für sich ein Individium. Wie bei jedem großen Humanisten definiert sich auch bei Jones das Menschsein über sein moralisches Handeln. In diesem Kontext wirkt es nicht unglaubwürdig das Sam seinem Roboter Gerty klar macht: "Wir sind Menschen."

"Moon" liefert eine glaubwürdige Abhandlung über den Einfluss des Klonens und erinnert in seinen besten Momenten an eine Art Bergman-in-Space. Obwohl sich der Film stilistisch "nur" im Dunstkreis seiner klassischen Vorbilder befindet, darf Angesichts der Rückkehr eines totgeglaubten Genres euphorisch gejubelt werden.

Wertung: 8/10


"Moon"
GB, 2009
Duncan Jones
mit Sam Rockwell, Kevin Spacey (Stimme)



Bei uns bisher nur im Kino, in vielen anderen Ländern bereits auf Blu-Ray & DVD!


Montag, 2. August 2010

INCEPTION

Chris Nolans Blockbuster entführt den Zuschauer in die alte Welt ohne 3D und Franchises. Das ist zwar erfrischend, aber leider auch nicht neu.

Dank modernster Technologie ist es in naher Zukunft möglich, in Träume und somit in das Unterbewusstsein von Menschen einzusteigen. Das Einsteigen bedeutet mithin auch die Möglichkeit des Stehlens fremder und bisher ureigenster Ideen. Ein Meisterdieb auf dem neuesten Gebiet der Firmenspionage ist Dom Cobb, was ihn nicht nur im positiven Sinn zu einem besonders gefragten Mann macht. Um endlich wieder ein normales Leben führen zu können, muss er nur noch den einen letzten Job erledigen.

Blockbuster aus Hollywood haben ein Ziel. Sie wollen Massen erreichen. Dementsprechend ist der Erfolg eines Blockbusters nichts anderes als die Reflektion des Massengeschmacks. Es ist daher schon fast zynisch oder kulturpessimistisch, dass die grassierende Abwesenheit von Originalität, die Hollywood heutzutage dominiert und sich in endlosen Mustern aus Sequels, Prequels, Reboots, Remakes und Franchises präsentiert, solch kommerziell erfolgreiche Blüten trägt. Dass Kino auch immer schon Ware war, die verkauft werden muss, will keiner bestreiten. Schon zu Urtagen musste man einen Penny einwerfen um auf dem Jahrmarkt die Bilder tanzen zu sehen. Schaut man aber auf die Entwicklung des Massengeschmacks (und welche Genres er beeinflusst hat), so zeichnet sich ein Bild, dass die heutige Zuschauerschaft wie eine Herde Schafe wirken lässt.

Wie so oft scheint früher alles besser gewesen zu sein. Nun gehört es aber zum Verlauf der Geschichte, dass schlechte Ereignisse gerne verdrängt werden. Manchmal ist das gut, meistens eher nicht. Denn zu den wenigen Meilensteinen der Filmgeschichte gesellten sich zur damaligen Zeit ebenso eine Masse von hirnloser Fließbandware, die heute wie vergessen scheint. Logischerweise zeigt ein Blick in die Vergangenheit (je nach Betrachtung) mehr gute Filme als schlechte.

Nun hängt der Überlebensgrad eines guten Films (respektive Meisterwerks) stark vom kommerziellen Erfolg oder der Gönnerschaft einflussreicher Menschen ab. Ein Film kann noch so grandios, persönlich und künstlerisch wertvoll sein, wenn ihn niemand sehen will, gibt es selten eine Perspektive.

Ungerechterweise wird dieses Schicksal wohl viele gute Filme ereilt haben. Deshalb war und sollte es auch im Interesse eines jeden Filmemachers sein, sich auch ein Stück weit die Eigenschaften eines Produzenten anzueignen, damit sein Film auch gesehen wird oder er verzichtet gänzlich auf sein Publikum, was nicht unbedingt einen schlechteren Film bedeutet.

Die großen Blockbuster der Vergangenheit waren oftmals auch Meilensteine der Filmkunst, z.B. „Birth of a nation“, „Wizard of Oz“, „Lawrence of Arabia“ oder „Jaws“. Das waren ungemein erfolgreiche Filme, die genau den Massengeschmack trafen und trotzdem künstlerisch wertvoll waren.

Ein Blick in die Zukunft ist immer spannend. Denn wie werden die Blockbuster unserer Zeit später rezipiert? Wird man „Pirates of the Caribbean“ als Meilenstein bezeichnen? Kommt Michael Bay durch „Transformers“ doch noch zu unverhofften Regie-Ehren und wird in Zukunft mit Eisenstein verglichen? Es ist eindeutig eine spannende Angelegenheit. Welche Filme überleben die Zeit und was ist mehr daran beteiligt, der Erfolg oder das Werk?

Selbst „2001“ wurde zum Release verrissen. Damals sahen nur wenige den Klassiker, der er heute ist. Allerdings wurde Kubricks abnorme Weltraum-Reise von unerwartetem Erfolg gekrönt. Überlebte er nur weil er bis „Star Wars“ der erfolgreichste Sci-Fi-Film war? Das scheint fragwürdig.

Filme können nur durch ihr Publikum überleben, über Generationen hinweg. „Fantasia“ (ein kommerzieller Flop) war bis in die 70er fast komplett vergessen und gelangte nur durch den Release auf VHS zu neuen Ehren. Die damalige Studentenschaft erkannte das enorme Potenzial des Films beim Konsum von LSD. „Fantasia“ wurde so zu Disneys erfolgreichstem Drogenfilm.

Auch nachfolgende Filmemacher-Generationen sind stark am Überleben eines Films beteiligt. „2001“ gilt als Lieblingsfilm der jungen New-Hollywood-Bande (Scorsese, Coppola, Spielberg), die stets Bezug auf ihre Vorbilder nahmen und damit konkret ihren Ruf förderten und ihre Werke bekannter machten. Tarantino macht doch nichts anderes, für ihn ist Kino nur Zeitmaschine. Ginge es nach Tarantino bräuchte man gar keine neuen Filme mehr drehen. Dementsprechend wird man ihn später auch als den Archivar des Kinos begreifen, der er ist.

Schlussendlich, es geht also um Inspiration. Ein Film muss inspirierend sein für nachfolgende Generationen um sein Überleben zu sichern. Wenn ich also möglichst viele Menschen mit meinem Film erreiche und mein Film auch das künstlerische Format hat Menschen zu fesseln und nicht mehr los zu lassen, dann kann ich mich doch beruhigt zurücklehnen und hoffen, dass ich in 1000 Jahren wiedergeboren werde um meinen eigenen Namen in den Filmbüchern lesen zu können.

Ich bin kein Orakel, doch ich wage zu behaupten, dass Christopher Nolan mit „Inception“ eben dies erreicht hat. Jenseits des großen Hypes (der vor allem „The Dark Knight“ zu verdanken ist), sieht man gerade an den Reviews und Publikumsreaktionen, dass hiervon niemand unberührt bleibt. Nolan wirkt wie ein Messias im Dunst der Exkremente, die Hollyood in den letzten Jahren über uns gegossen hat. Er ist kein Messias. Er ist kein Wunderkind (schon lange nicht mehr). Nolan scheint wohl einfach, dass zu machen, was jeder ehrliche Filmemacher tun sollte, nämlich seinen Film zu drehen. Denn bei allem cineastischen Brimborium bleibt „Inception“ angenehm persönlich und zeigt sich als klares Produkt seines Schöpfers.

In Nolans Werk geht es immer um Schöpfung und um das Verirrt-sein seiner Protagonisten. Seine Helden sind immer Reisende. Sie laufen durch Labyrinthe ihrer eigens geschaffenen Hölle. Dabei ist Nolan zudem ein so brillanter Stilist, dass er sich sogar die Mühe macht eben dieses Gefühl der Verirrtheit durch ausgeklügelte Story-Konstruktionen auf den Zuschauer zu übertragen, was seine Filme dazu noch ungemein unterhaltsam macht.

„Following“ handelte von einem ideenlosen Schriftsteller, der mehr Inspiration bekommt als er erwartet hat und letztendlich zum beinah griechischen Helden wird, den die Story des Lebens überlistet. In „Memento“ läuft der Protagonist durch das Labyrinth seiner eigenen Erinnerungen, die er sich mit kleinen Zetteln und Fotografien konserviert hat, da er selbst zur keiner eigenen Erinnerung mehr fähig ist. „Insomnia“ nimmt fast schon seinen neuesten Film ein wenig vorweg und begleitete einen Pacino, der traumwandlerisch der Wahrheit hinterherjagt. „Batman begins“ stellt den gebrochenen Helden wiederum als Schöpfer seines eigenen Schicksals dar. Zur höheren Aufgabe berufen, versucht er seinen Dämonen zu entfliehen, kann sich aber letztendlich nur als Spiegelbild seiner eigenen Ängste manifestieren. „The Prestige“ geht da noch viel weiter und zeigt zwei Männer wie zwei Seiten einer Medaille, die sich mit ihren eigenen Schöpfungen gegenseitig überbieten wollen. Dabei argumentiert Nolan mit seltener Leidenschaft was eine wahre Vision einen Künstler kosten kann. „The Dark Knight“ fügt die Idee des gespaltenen Helden dem Batman-Franchise hinzu und zeigt das Duell zwischen Schurke und Held als verzerrtes Spiegelkabinett.

Mit „Inception“ scheint Nolan nun seinem eigenen Schaffen einen Kommentar hinzuzufügen. Denn der Film liest sich auch als Metapher über den Prozess des Filmemachens. Wie arbeitet die Traumfabrik? Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Sci-Fi-Komponente des Films eher rudimentär wirkt. Die großen technischen Erklärungen lässt Nolan zum Glück aus. Ebenso vermeidet er die Zeichnung einer Utopie. Die Welt in „Inception“ ist die gleiche wie heute. Das Traum-sharing entpuppt sich dementsprechend wirklich als Gang ins Kino.

Man könnte „Inception“ also auch als das aufwendigste Making-Of aller Zeiten lesen. Das Making-Of, was alle Filme gemein haben. Denn all die Regeln die Ariadne zu Beginn des Films erklärt werden wirken wie Umschreibungen vieler Tipps aus bekannten Büchern über das Filmhandwerk.

Der Träumende und seine Projektionen stellen somit das Publikum dar, was überlistet und unterhalten werden möchte ohne dass es merkt, dass es träumt oder dass es einen Film sieht. Nolan gibt hiermit nicht nur Einblick in seine Arbeitsweise, sondern formuliert auch schonungslos den Sinn eines jeden Films. Es geht nicht um Ideendiebstahl, sondern um die Einpflanzung einer Idee. Filme, wie andere Kunstwerke, sollen Ideen vermitteln, die wuchern und gedeihen, Inspiration!

Wirklich neu ist „Inception“ eher nicht und bis auf „Following“ und „Memento“ trifft das auch auf seine anderen Filme zu. Der Reiz seines ganzen Werk ist folglich eher mit dem Reiz eines guten Handwerkers zu vergleichen. Er ist niemand, der auf die Idee kommen würde zur Verbesserung der Stabilität einen Küchentisch um ein Bein zu erweitern, aber er baut den Tisch so als würde er eine Horde Elefanten aushalten.

So ist auch „Inception“ ein handwerkliches Wunderwerk, was besonders auf der dramaturgischen Ebene begeistert und so elegant durch die Geschichte, seine vielen Handlungsfäden und Set-Pieces führt, dass man als Träumender nie auf die Idee kommen würde aufzuwachen.

Dennoch, trotz seines erkennbaren Alleinstellungsmerkmal in der heutigen Filmlandschaft, schwimmt dieses Floß „Inception“ auf einem Meer von Schwächen, was überwiegend dem Mainstream geschuldet ist.

Wie eingangs erwähnt sollte ein jeder Filmemacher auch ein wenig Produzent sein. Nolan verortet seine komplexe Reise durch den Schöpfungsprozess eines Films fest im Unterhaltungskino der heutigen Zeit. „Inception“ wird zum Actionfilm. Nun zeigte sich schon in „The Dark Knight“ Nolans große Schwäche für Action-Szenen. Auch „Inception“ fehlt in den vielen Schießereien einfach der Überblick. Wally Pfisters Kamera klebt mit dem Teleobjektiv an den Gewehren ohne auch nur zu zeigen wer sie bedient und wohin sie schießen.

Zudem raubt diese Action-Komponente dem Film einige seiner besten Einfälle. Während Ariadne in ihrer Trainingsphase noch mit immer aufmüpfiger werdenden Passanten zu kämpfen hatte, was im späteren Heist-Plot eine ungemein dynamische Bedrohlichkeitssteigerung dargestellt hätte, verzichtet Nolan darauf komplett und lässt gleich zu Beginn des Coups die Projektionen mit Gewehren auflaufen.

Eine andere verständliche Schwachstelle ist die erste Stunde des Films, die sich fast ausschließlich mit der Erklärung der Spielregeln auseinandersetzen muss. Nolan hat zwar genug handwerkliches Geschick um sein Tutorial filmisch umzusetzen, aber ohne einseitige Erklärungsmonologe, die sich wie Propaganda anhören, kommt auch „Inception“ nicht aus. Es gilt somit die erste Stunde zu überstehen, hinterher zukommen und alles kapiert zu haben. Denn sobald die titelgebende Inception beginnt, gibt es kein zurück mehr. Gerade in der zweiten Hälfte fesselt und inspiriert der Film, da er vieles dem Zuschauer überlässt und nur noch wenig erklärt.

Die oftmals erwähnten flachen Figuren des Films sind in Nolans Filmen keine Seltenheit und werden durch die ausführlich designten Plots verursacht. Es sind halt nur Nebenfiguren. Denn gerade von Nolans Hauptfiguren kann man nicht behaupten sie seien flach. Oftmals liegt der Schlüssel zur Lösung von Nolans Plots in der Entschlüsselung seiner Helden. Erst mit der Auflösung von Memento bekam Guy Pearces Figur endgültig Tiefe und sein ganzer Konflikt breitete sich vor unseren Augen aus.

„Inception“ blickt auch wieder gezielt auf seinen Helden und vernachlässigt absichtlich den Rest. Das kann man kritisieren, wobei es clever war so talentierte Darsteller wie Page, Murphy, Levitt und Hardy zu besetzen, die allein durch Ausstrahlung ihre Figuren füllen.

Hier geht es eindeutig um Dom Cobb, gespielt von Leonardo DiCaprio, und seine Frau, die von der grandiosen Marion Cottilard verkörpert wird. Wie im sehr ähnlichen „Shutter Island“, spielt DiCaprio auch hier einen gebrochenen Mann mit problematischem Eheleben. Allerdings während DiCaprio in Scorsese Seelentraktat eine ungemeine Bandbreite an emotionalen Facetten abliefern konnte, kommt Cobbs Figur unangenehm angespannt daher. Besonders die vielen Erklärungen im Film verwehren den emotionalen Zugang zur Figur und auch DiCaprio wirkt so als wüsste er nicht ob jetzt sein Erklärungen wichtig sind oder seine Figur.

Marion Cottilard ist dagegen fest mit ihrer Figur verbunden. Nichts erinnert mehr an ihre schwache Frauenrolle in Manns „Public Enemies“ und schon gar nicht an ihre burleske Edith Piaf in „La Vie en Rose“. Nein, Cottilard liefert eine hinreißende Performance als Femme Fatale, die sogar in den größten melodramatischen Szenen berührt und glaubwürdig bleibt. Allein ihre Ausstrahlung bindet alle Blicke. Ja, es gibt Momente, da spielt sie DiCaprio fast an die Wand.

Es sind gerade die Szenen zwischen DiCaprio und Cottilard, die den Film reicher machen. Besonders die letzte Szene der beiden hat mich zutiefst berührt und illustriert Nolans Händchen für Schauspielerei.

Was viele Kritiker an „Inception“ bemängeln ist seine logische Struktur im Bezug auf sein Sujet. Bei einer Story die sich um Träume und die Kraft des Unterbewussten dreht, wirken Nolans Traumwelten wie Level eines Videospiels das klaren Regeln folgt. Es fehlt das Lückenhafte, Unlogische und vorallem Surreale, was das echte Träumen bestimmt.

Diese Schwäche muss sich „Inception“ eingestehen und sie wäre auch viel gravierender, wenn es denn wirklich ums Träumen ginge. Wie gesagt, es geht letztendlich ums Filmemachen, ums Erschaffen von Traumwelten, welche nicht als Träume enttarnt werden wollen und somit den Gesetzen unserer Welt gehorchen.

Ich werde dagegen etwas kritisieren, was viele als große Stärke interpretieren, die Optik des Films. „Inception“ wird ja schon als Kamera-Glanzleistung gefeiert, die neue Wege geht. Wally Pfisters Kamera geht viele Wege, aber keiner ist neu. Die Zeitlupen-Sequenzen und der Schwerelos-Kampf führen nur die Arbeit der Wachowsky-Brüder konsequent fort. Zudem gelingt dem Film kaum eine Einstellung, die etwas mit Poesie zu tun hat. Pfister filmt alles so, wie es schon etliche vor ihm gemacht haben. Seine Bilder vermitteln selten Ideen. Meistens sind dafür die Dialoge und der Schnitt verantwortlich. Auch die Lichtsetzung und Farbpalette sind die gleiche Sülze wie schon bei „The Dark Knight“. Entweder ist alles orange oder blau und das Licht ist meistens eine undefinierbare Schmiere. Einzig und allein „The Prestige“ zeigte ein aufregendes Kamera-Konzept. Warum kann Pfister das nicht wiederholen?

Letztendlich ist „Inception“ dennoch eine Wohltat des Blockbuster-Kinos und der beste Hollywood-Film der letzten Jahre. Die unübersehbaren Schwächen können zwar nicht ignoriert werden, aber Nolans fulminante Inszenierung lässt einen kaum darüber nachdenken.

Obwohl die Thematik der trügerischen Realitäten schon ein alter Hut ist und frühere Filme wie „Matrix“, „ExixtenZ“ und „Welt am Draht“ es bereits besser gemacht haben, gelingt es Nolan dem ganzen sogar noch etwas hinzuzufügen. Er verwertet das Dilemma um Traum und Wirklichkeit zur philosophischen Auseinandersetzung über den Prozess des Filmemachens.

Wir werden sehen, ob Nolan es gelungen ist genügend Menschen zu infizieren und sein Film noch in Zukunft mit staunenden Augen betrachtet wird. Im Angesicht der aktuellen kreativen Flaute Hollywoods, gönnt man „Inception“ einen Eintrag in die Filmgeschichtsbücher. Der Erfolg des Films zeigt schon mal, der Geschmack des Massenpublikums ist noch nicht verloren.

Wertung: 7,5/10


"Inception"

USA, 2010

Christopher Nolan

mit Leonardo DiCaprio, Marion Cottilard, Cillian Murphy


Nur im Kino!