Sonntag, 17. Juli 2011

THE TREE OF LIFE

Flüstern im Dunkeln, die Geburt des Universums, eine Familie am Abgrund, Terrence Malick versucht in seinem neuen Film die ganze Geschichte zu erzählen.

Texas, 1960: Jack kommt als Sohn der O'Briens zur Welt. Zusammen mit seinen zwei jüngeren Geschwistern, wächst er unter der strengen Hand des Vaters und der Gnade der Mutter auf. Mit 19 Jahren stirbt sein Bruder, was Jack bis heute nicht loslässt.

In der nordischen Mythologie heißt der Lebensbaum, der alle Welten zusammenhält, Yggdrasil. Schlangen nagen an seinen Wurzeln, die Götter sitzen in den Zweigen und seine Äste reichen vom Jenseits zum Diesseits und zurück. Wenn der Baum stürzt, geht die Welt unter. Yggdrasil ist Kosmos und Zentrum allen Seins.

Nach Malicks zwanzigjähriger Leinwandabstinenz hat der amerikanische Autorenfilmer nicht gerade den Ruf „kleine“ Geschichten zu erzählen. „The Thin Red Line“ oder „The New World“, obwohl in klaren narrativen Konzepten eingebettet, erzählten mehr als nur über den Krieg oder die Erschließung Amerikas. Was ist der Mensch? Was ist die Natur? Das sind die großen Fragen, die Malick schon seit Anbeginn seiner Karriere interessieren.

In „Badlands“ bricht ein Liebespaar aus der Zivilisation aus und landet im Dickicht der Natur, doch letztendlich ist auch das kein Ausweg, keine geeignete Flucht vor der Schuld und den Schergen der Polizei. „Days of Heaven“ erinnert in vielen Momenten an Malicks Debüt. Auch hier macht sich ein Paar schuldig, versucht das Schicksal zu überlisten und scheitert wieder am menschlichen Wesen. Die Tage des Himmels dagegen verbrachten sie auf den Ährenreichen Feldern in der Glut der Sonne oder im gefrorenen Tau des Morgens. Malicks Filme sind durchtränkt von den ewig gleichen Fragen und das seit fast vierzig Jahren.

„The Tree Of Life“ steht in seinen Ambitionen den bisherigen Filmen in nichts nach. Das genaue Gegenteil ist eher der Fall. Wieder werden ähnliche Fragen gestellt, doch diesmal will Malick nichts auslassen. „The Tree Of Life“ ist beabsichtigtes Hauptwerk und ebenso ein Brückenschlag zu seinen früheren Filmen. So wie Yggdrasil, verbindet er alle Themen in Malicks Werk, greift sie wieder auf und denkt sie weiter, weiter als je zuvor.

Nur, fällt der „Tree of Life“, begräbt er auch Malicks künstlerische Integrität unter sich. Ein Scheitern ist nicht möglich und war doch noch nie so wahrscheinlich. Nach seiner Premiere in Cannes spaltete sich die Presse. Die einen sprachen von einem peinlichen Offenbarungseid, die anderen ließen sich von Malicks „opus magnum“ gänzlich gefangen nehmen. Gerettet hat ihn letztendlich die Goldene Palme und sein nächster Film steht bereits in den Startlöchern.

In den, objektiv betrachtet, recht kurzen 138 Minuten geht es weder konkret um den mythischen Baum des Lebens, noch wird er einmal erwähnt. Malick zeigt uns nicht Brad Pitt als Conquistador auf der Suche nach der Quelle des Lebens, wie es Aronofsky in seinem naiven „The Fountain“ gemacht hat. Der Titel ist hier viel eher Kommentar und Zugangshilfe, Er dient ja nicht nur dafür um dem Film einen Namen zu geben, sondern um zu umschreiben, was einen erwartet.

Lubezkis Kamera nimmt auffällig oft Bäume ins Bild, umkreist sie oder steigt an ihren Ästen empor. Als Gleichnis wird ebenso auf den Baum der O'Briens Bezug genommen, den der Vater zu Beginn von Jacks Leben in den Garten pflanzt und der nun praktisch mit ihm mitwächst. Doch all das erzählt Malick mehr am Rande. Was den Film am stärksten dominiert ist seine Gegenüberstellung von Schicksal und Zufall, Gnade und Natur.

Malick wuchs christlich geprägt auf, studierte Philosophie und endete beim Film. Jacks Leben verläuft anders und dennoch ist „The Tree Of Life“ ein sehr autobiografischer Film geworden, der das eigene Leben durchleuchtet und neu denkt. Das große Dilemma, was Malick quält, ist die Unwissenheit darüber ob Gott existiert. Der Film ist weder ein Gottesbeweis, noch eine Verleugnung oder ein religiöses Plädoyer, was ihm ja bereits oft unterstellt wurde.

Die Stimmen, niemand setzt Off-Kommentare so vollendet ein, sind von der gleichen Unwissenheit geprägt, wie die des Regisseurs. Ihre fundamentalen Fragen richten sie an ein uneindeutiges Du, ohne zu wissen ob es existiert. Malicks Sozialisation, Jacks Herkunft, beide kennen keinen Zweifel an Gott. Es gibt Kirchen und die Bibel als Beweise, alles von Menschenhand geschaffen, doch die Natur widerspricht Gott unaufhörlich. Wem soll ich glauben? Diese Unsicherheit ist der eigentliche Grundtenor und so ist dieser Film kein prätentiöser Gottesdienst geworden. Er stellt Fragen, große Fragen, also das was die Kunst sowieso am besten kann.

Viel logischer erscheint mir die Erklärung, dass es heutzutage einfach out ist sich mit Gott zu beschäftigen. Gott ist schließlich tot. Bei alten Filmen tolerieren wir das ja noch, aber bei zeitgenössischen? Sobald jemand das G-Wort in den Mund nimmt, fürchtet unsere atheistische Seite bekehrt zu werden, reiner Überlebensinstinkt und folglich Beißreflex. Malick, der stramm auf die siebzig zugeht, kann diese Frage nun nicht so leicht für sich beantworten, will er auch gar nicht. Selbst wenn seine persönlichen Interessen dem Zeitgeist widerstreben, dreht er einen Film darüber, sympathisch, wie ich finde.

„The Tree Of Life“ geht weit über das Theodizee-Problem hinaus. Malick interessiert sich nicht nur für die Moral Gottes und seine Motivationen „böses“ zu tun. Sein Film teilt sich in mehrere Teile, ohne konkrete Grenzen oder Titel, wie sie noch Kubrick für „2001“ verwendet hat. Im ersten Teil behandelt Malick den Tod des Bruders, die Qual der Familie, die Überlebensschuld Jacks. Warum musste er sterben? War es Schicksal oder Zufall? Die Stimmung des Verlusts, die Trauer und die stummen Blicke fangen Malick und Lubezki meisterhaft ein. Die Off-Stimmen vermitteln introspektiv was in den Figuren vorgeht. Jessica Chastain und Brad Pitt beeindrucken schon zu Beginn.

Sehr fließend wechselt der Film von der Thematik des Todes zum Ursprung des Lebens. Auf die beiläufige Bitte eines der Kinder an ihre Mutter ihnen eine Geschichte von vor ihrer Zeit zu erzählen, folgt eine Collage über die Entstehung des Universums und des Lebens, wobei Malick sakral-anmutende Gesänge mit naturalistischen Bildern der Urknall-Theorie kollidieren lässt. Auch hier stellt sich wieder die Frage nach dem Schicksal. War es vorherbestimmt, dass Leben entsteht oder gilt die frustrierende, wissenschaftliche Auffassung, dass der Mensch nur ein Lottogewinn ist. Malicks Montage schürt jedenfalls Ehrfurcht und verkleinert absichtlich die Figuren. So oder so, dass sie leben ist ein Wunder.

Der Genesis-Bildersturm legt eine kurze Pause in der Zeit der Dinosaurier ein. Nun gut, man kann schwer davon absehen, dass die VFX-Abteilung hier weit hinter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Außerdem kann man das befremdliche Gefühl nachvollziehen, auf einmal mit Dinosauriern konfrontiert zu sein, so ganz nebenbei, ohne Brimborium und außerordentlichem Interesse. Dabei ist die kleine Parabel, die sich Malick traut anhand von zwei Sauriern zu erzählen, eine gelungene Ouvertüre für den weiteren Film. Ein Jäger verschont sein Opfer, gegen jede Vorhersehung und der Regisseur lässt das ganze auch noch unkommentiert, wodurch wir wieder bei der Frage wären, ob Gott hier interveniert hat oder ob der Saurier gefürchtet hat, sich eine Krankheit einzufangen, wenn er die geschwächte Beute frisst.

Auf den Tod der Dinosaurier, folgt das Leben der Menschen, speziell der O`Briens. Malick fügt fließend das Leben Jacks an die Entstehung der Welt an. Hier liegt das Hauptaugenmerk. Die experimentelle Montage weicht zunehmend einer narrativen ohne auch nur annähernd konservativ zu werden. Malicks Schnitt und Lubezkis Kamera schaffen es mit wenigen Bildern enormes zu erzählen, seien es Konflikte oder Zeitsprünge. Alles fließt, so als sei alles beabsichtigt, was anhand der Flut an Bildern kaum vorstellbar ist. Die Regie vollbringt jedenfalls außerordentliches. Vielleicht demonstriert gerade der Mittelteil des Films Malicks ganzen Können, besonders, weil er auch am zugänglichsten ist und wir ganz in die innere Welt Jacks abtauchen können. „The Tree Of Life“ erklärt sich hier am besten. Wenn man den Ursprung des Universums als Stamm ansieht, dann ist Jack ein Ast. Alle sind miteinander verbunden. Jacks Ast teilt sich aber auch immer wieder auf, Sinnbild der Möglichkeiten eines Menschenlebens. Was für Entscheidungen fälle ich, welche Wege bleiben mir für immer verwehrt. Im Hauptteil des Films erzählt eben Malick von nichts anderem, Jacks Entscheidungen auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Lubezki positioniert seine Kamera stets auf Augenhöhe der Kinder. Das Weitwinkelobjektiv nimmt die Welt staunend wahr. Alles erscheint überlebensgroß und verzerrt. Die Geschichte ist universell. Jeder kann sich in ihr spiegeln. Die Kinder machen Fehler, rebellieren gegen ihren Vater, ebenso wie gegen Gott. Wir sind hautnah dabei, wenn Jack zum ersten mal wissentlich falsches tut. Wir erleben sein sexuelles Erwachen, seine Rachsucht, sein Mitgefühl. Atemberaubend, wie es Malick gelingt diese Lebensbilder zu formulieren, als würde man im Kino als Jack wiedergeboren werden. Er ist hin und hergerissen zwischen den moralischen Ansprüchen seiner Eltern. Warum sollte er gutes tun, wenn Gott ebenso böses tut? Existiert Gott denn überhaupt? Wofür dann die Moral? Habe ich überhaupt einen freien Willen oder ist alles Zufall?

Hunter McCracken brilliert in jeder Einstellung. Faszinierend, wie er nur mit Mimik und Gestik erzählen kann. Ebenso Brad Pitt, der hier eine seiner besten Leistungen abliefert. Pitt spielt den Vater nicht als stählerne Autorität. Vielmehr ist Mr. O'Brien Projektionsfläche des Sohnes. Pitt variiert stets im Bezug zu Jacks Entwicklung. Als der Sohn in der Pubertät gegen den Vater rebelliert und dieser ihn nicht bändigen kann, verfällt Pitts Figur in eine fast verletzliche Resignation und es ist einer der schönsten Momente des Films, wenn beide sich beim Unkraut jäten wieder näher kommen, selbst wenn die Konflikte ungelöst bleiben.

Malick lässt die Familie zerbrechen, zu groß sind die Wunden. Als der Vater seinen Job verliert, muss die Familie umziehen und begibt sich in eine ungewisse Zukunft. Wir wissen nur, das eine Kind stirbt. Jack wird Architekt und sich unter seinen eigenen Schöpfungen begraben, aus Schuld oder was auch immer.

Im letzten Akt stellt Malick die Frage nach dem Jenseits. Ohne es konkret zu benennen, entwirft er seine Vision des Himmels, die, respektive zum Bild des Lebensbaums, zeigt, wie alle Menschen miteinander verbunden sind, sich wiedersehen und verzeihen. Diese Vorstellung kann ebenso ein Traum Jacks sein, aber das ist nicht wichtig. Es schließt den Film und Malick kann sich sicher sein, alles erzählt zu haben, mehr oder weniger hatte er auch nicht vor.

Wertung: 8,5/10


"The Tree Of Life"

IN, GB, USA 2011

Terrence Malick

mit Hunter McCracken, Brad Pitt, Jessica Chastain


Im Kino!

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