Donnerstag, 26. April 2012

THE AVENGERS


Lasst alle Helden bei mir sein!

Thors Bruder Loki (Tom Hiddleston) kehrt zurück auf die Erde. Er stiehlt den Tesserakt, einen Würfel mit unendlicher Energie, um ein Portal zu bauen, damit seine Alienarmee auf die Erde kommen kann und die Menschheit unterjocht. Nick Fury (Samuel L. Jackson) reaktiviert daraufhin die Avengers-Initiative, einen Verbund, der mächtigsten Superhelden der Welt.

Wagt man einen Blick zurück, zum Anbeginn der Comic-Kinowelle, auf das Jahr 2000, damals erschien Bryan Singers "X-Men", so hat man heute einfach den Überblick verloren. Man fragt sich nur noch: Welcher Superheld wurde eigentlich noch nicht verfilmt? Anscheinend gibt es nicht mehr so viele, sonst würde man "Spider Man" nicht rebooten und "The Avengers" wäre wohl auch nicht entstanden.

Seit "X-Men" hat sich das Comic-Kino sehr verändert. Was früher als Kassengift galt, ist heute ein sicheres Pferd in Hollywood. Auch der Umgang mit den Stoffen hat sich verändert. Anders als bei einer Literaturadaption, bin ich bei einer Comicumsetzung an visuelle Vorbilder gebunden. Schwierig ist dennoch der Unterschied zwischen Realperson und gezeichneter Figur. Wo im Comic ein buntes Heldenkostüm mit Strapsen und Cape schulterzuckend hingenommen wird, ja sogar Teil einer langentwickelten amerikanischen Comic-Geschichte ist, die mit Farben arbeitet, wie keine zweite Kultur, während in Japan Manga immernoch schwarz-weiß ist, erscheinen derartige Ausstattungen im Kino wie eine leibhaftige Varieté-Show, da aber hinter jeder guten Comicvorlage stets eine große epische Erzählung steckt, waren auch gerade die seriösen Perspektiven von Comicverfilmungen reizvoll, was durch buntaufgetakelte Superhelden leicht hätte korrumpiert werden können. Schon Tim Burton verabschiedete sich in den 90er Jahren lautstark vom Adam-West-Batman und schuf eine düstere und hochdramatische Comicsymphonie. "X-Men" tat ähnliches, entsättigte die Kostüme und fasste alle Sci-Fi-Elemente in ein Glas-Beton-Stahldesign. Als Höhepunkt dieser Entwicklung können Christopher Nolans "Batman"-Filme angesehen werden. Ein Backlash war die Folge. Batman habe sich schon so weit von seiner Vorlage entfernt, dass der Comiccharakter komplett verschwand, lautete das Urteil vieler Fans.

Das hat Hollywood, speziell Marvel verstanden. Seit der ersten hochgelobten Eigenproduktion "Iron Man", arbeitet das Studio an einem "Cinematic Universe", zu dem nicht nur die "Iron Man"-Filme, sondern auch "The Incredible Hulk" von 2008, "Thor" und "Captain America: The First Avenger" gehören. Alle diese Filme sind teil einer neuen filmischen Welt, die nun mit Joss Whedons "The Avengers" ihre Vollendung erfährt. Man könnte sagen, wir sind in der Comicfilm-Postmoderne angelangt, denn nach zahlreichen ästhetischen Experimenten, wie "Sin City" oder Ang Lees "Hulk" von 2003, gibt es keine Ängste mehr. Das Publikum nimmt nun Superhelden in bunten, wie auch in schwarzen Kostümen ernst. Die bekannten narrativen Muster des Mythos, denen sich jeder Superheldenfilm bedient, haben auch schon die Zuschauer verinnerlicht, was Auslassungen in den Erzählungen möglich macht, was wiederum Raum für mehr Schauwerte, wie sie das Blockbusterkino benötigt, schafft.

Bei einem Film wie "The Avengers" kann man sowieso schlecht von einer Comicverfilmung sprechen. Nur ein Bruchteil des Publikums kennt die Vorlagen. All diese Figuren haben sich bereits emanzipiert und sind fest im Kino angekommen. Joss Whedon, bekannt als Drehbuchautor und TV-Serienschöpfer, hat nun nach "Serenity" mit "The Avengers" seinen zweiten Kinofilm gedreht und damit den ersten richtig guten Sommerblockbuster des Jahres geliefert.

Wenn man Joss Whedons bisherige Arbeit betrachtet, erstaunt es wie selbstverständlich sein Actionkino funktioniert. Das woran Kenneth Branagh mit "Thor" kläglich gescheitert ist, also mitreißend zu Erzählen, das gelingt "The Avengers" über 143 Minuten hinweg. Whedon schrieb selbst das Drehbuch und ohnehin wirkt "The Avengers" stets wie ein Autorenfilm. Da ist zum einen die sympathische Entscheidung des Bildformats von 16:9. Alle vorherigen Marvelfilme waren in Cinemascope. Das 16:9-Format ähnelt nicht nur Whedons Fernseharbeiten, sondern ist für Actionfilme ohnehin das bessere Format, da es nicht nur genug Raum in der Breite, sondern auch in der Höhe hat, was vorallem dem Showdown in Manhattan gut tut. Dazu gesellt sich Whedons Vorliebe für Ensembles. "Buffy", "Firefly", ja fast alle TV-Serien arbeiten mit großen Ensembles. Was im Fernsehen selbstverständlich ist, muss nicht fürs Kino gelten. Dennoch lebt "The Avengers" in erster Linie durch die Konflikte dieser völlig unterschiedlichen Helden und das Drehbuch nimmt sich ungemein viel Zeit für Dialoge und Charakterzeichnung. Es fällt einfach schwer irgendeine Figur nicht in sein Herz zu schließen, sei es der rüpelhafte Hühne Thor oder der Playboy Tony Stark aka Iron Man. Besonders gefiel mir aber Bruce Banner alias Hulk. Mark Ruffalo hat sich hiermit zur besten Besetzung dieser Figur empfohlen, zumal Whedon die Auftritte des Hulks auf ein Minimum beschränkt und Banners Tätigkeit als Wissenschaftler in den Fokus rückt.

Diese Rächer wirken wirklich wie eine Superhelden-WG, die sich zusammenraufen muss, ähnlich wie Buffy und ihre Freunde in Whedons bekannter TV-Serie und nicht von ungefähr wirken irgendwie alle Figuren, seien sie auch noch so alt, ein bisschen wie Teenager, was der primären Zielgruppe dieses Films zugute kommt. Eigentlich vernachlässigt das Drehbuch nur eine Sache, nämlich die Hintergründe. Was das nun genau für ein Ding ist, dieser Tesserakt und wer die Mächte hinter Loki sind, das lässt das Drehbuch einfach im Dunkeln und es ist letztendlich auch egal. Das sind doch alles nur MacGuffins.

Wenn man mal davon absieht, dass dieser Film eigentlich nichts zu erzählen hat und seine Imperialismus-Kritik schwer auf das heutige Amerika anwendbar ist, so hat Joss Whedon dennoch alles richtig gemacht. "The Avengers" ist brillant inszeniert, in jedweder Richtung. Allein die Endschlacht in New York dürfte Michael Bay vor Angst erzittern lassen und das von einem Regisseur der so etwas das erste Mal macht. Die Dialoge sind klug und ungemein witzig, sodass der Film als Komödie vielleicht noch eine bessere Figur macht, denn als Actionfilm. Wer keine Angst vor grandioser Unterhaltung hat, der geht einfach ins Kino. Die 3D-Brille stört nicht, ist aber auch nicht unbedingt nötig. Hier ist endlich das Superhelden-Epos, was alle anderen Superhelden überflüssig macht.

Wertung: 7/10


"Marvels The Avengers"
US 2012
Joss Whedon
mit Scarlett Johansson, Mark Ruffalo, Robert Downey Jr.

Dienstag, 24. April 2012

ROSEMARY'S BABY


Alte Ängste in neuem Gewand, warum avancierte Roman Polanskis erste amerikanische Produktion zu einem Klassiker des Horrorfilms?

Rosemary Woodhouse (Mia Farrow) und ihr Mann Guy (John Cassavetes) ziehen in das berüchtigte Bramfordhaus, dass während der Jahrhundertwende für zahlreiche okkulte Vorfälle bekannt war. Die Wohnung ist wunderschön und die Nachbarn sind komisch aber freundlich, perfekt um eine Familie zu gründen. Eines nachts träumt Rosemary davon von einem nicht-menschlichen Wesen mit feuerroten Augen vergewaltigt zu werden. Als sie danach schwanger wird, fängt der Schrecken erst an.

Als Polanski von einem Produzenten das Buch von Ira Levin in die Hand gedrückt bekam, wusste er nicht, dass er die ganze Nacht mit Lesen verbringen würde. Eigentlich wollte Polanski einen anderen Film drehen, doch nach der Lektüre, war ihm klar: Dieses Buch muss verfilmt werden.

"Rosemary's Baby" ist eine sehr getreue Verfilmung des Romans, schon allein weil Polanski die Vorlage filmisch genug empfand. Nebenbei passte die Idee hervorragend in das bisherige Werk des Regisseurs, der zuvor "The Fearless Vampire Killers" und "Repulsion" gedreht hatte. Heute weiß man, dass "Repulsion", "Rosemary's Baby" und "Le Locataire" eine Trilogie bilden, die sich mit Paranoia in Wohnhäusern und der Verschwörung der Nachbarschaft auseinandersetzt.

1968 erschien "Rosemary's Baby" und war ein großer Erfolg, während er im Feulliton gespalten betrachtet wurde. Der "National Catholic Office for Motion Pictures" lehnte den Film wegen "Perversion fundamentaler christlicher Glaubensvorstellungen“ und „Verhöhnung religiöser Persönlichkeiten und Gebräuche“ ab. In Anbetracht von Polanskis weiterem Leben, liest sich "Rosemary's Baby" auch wie eine schreckliche Vorhersehung. Seine Frau Sharon Tate wurde später hochschwanger ermordet.

Heute gilt der Film als Beginn einer Reihe von "psychodelischen Horrorfilmen" wie "The Exorcist", "The Omen" und "Carrie". Dabei ist es sowieso interessant wie wegweisend und politisch "Rosemary's Baby" war. 1968, also schlichtweg dem Jahr des Umbruchs, ließ Polanski nochmal die alten Geister beschwören, also die Herrschaft der Alten, denn Guy und Rosemary, das junge Paar, werden in Polanskis Film von der älteren Gesellschaft assimiliert und für das Böse missbraucht. Darin steckt nicht nur ein Bild auf die Macht des Konservatismus, der mit aller Kraft versucht die Jugend am Fliegen zu hindern, sondern auch der Geschlechterkampf der 60er Jahre. Die Nachbarn, wie auch Guy, versuchen Rosemary klein zu machen, sie schwach und abhängig zu halten. Mia Farrow wirkt mit ihrer fragilen Gestalt wie geschaffen für die Rolle. Als sie nach dem Vergewaltigungstraum mit Kratzern am Leib erwacht, stellt sie Guy zur Rede, der gleichgültig entgegnet, dass er sich gestern nicht beherrschen konnte. Rosemary fehlt indes die Kraft sich dieser häuslichen Vergewaltigung zu stellen. Als sie mit einem neuen, modernen Kurzhaarschnitt nach Hause kommt, erntet sie von Guy nur Hohn, der die Frisur schrecklich findet, wahrscheinlich weil sie nicht den Rollenbildern entspricht. Es ist letztendlich auch der gesellschaftliche Druck als Mann ein erfolgreicher Ernährer zu sein, der womöglich Guy zu seinem Handeln treibt.

Darüberhinaus zeichnet Polanski eine Welt, die nach zwei Weltkriegen das Träumen verlernt hat. Die Moderne ist auf ihrem Höhepunkt. Es regieren Rationalität, Wissenschaftsglaube und Pharmazie. "God is dead!" tituliert das Time-Magazine, was Rosemary im Wartezimmer des Doktors findet. Doch stimmt das auch für den Teufel? Die letzte Rettung Rosemarys scheitert eben an dieser gottlosen Welt, weil ihr niemand glauben will, dass sie Opfer einer Hexenverschwörung ist, funktioniere oder schmore im Irrenhaus, liebes. Später schuf Nicolas Roeg mit "Don't Look Now" einen noch schärferen Abgesang auf die Moderne.

Der Kampf der Instinkte, die alte Welt gegen die neue, Intellekt und Körper, alles vermischt Polanski in seinem Film zu einem poetischen Alptraum. William Frakers unaufgeregte und klare Kameraarbeit findet völlig neue Bilder um das Okkulte und Vergangene einzufangen. Vorbei sind die historischen Nachbildungen viktorianischer Schreckensfilme wie "Dracula" oder "Frankenstein". Polanski nistet sie einfach in unseren Alltag ein, als Metaphern und Symbole einer repressiven Gesellschaft.

Rosemarys Versuche sich zu emanzipieren bleiben erfolglos, wobei Polanski damit kein Scheitern des Feminismus formulieren wollte, sondern viel eher eine Möglichkeit des Scheiterns aufzeigen. Auch wenn "Rosemary's Baby" als schwarzhumorige Satire endet und man nur Schmunzeln kann, wenn nette Omis "Heil Satan!" rufen, bleibt Rosemary eine tragische Figur, denn bei jedem Schnitt auf eine Nahaufnahme ihres Gesichts, verfliegt das Groteske. Sie ist eine Betrogene, ein Opfer, dass niemand ernst nimmt. Um den Schmerz zu bekämpfen, da ihr die Kraft fehlt sich gegen diese Übermacht des Bösen zu wehren, zieht sie sich zurück in ihre Rolle als Mutter, denn auch wenn das Kind eine entstellte Teufelsgeburt ist, so ist es immer noch ihr Kind. Sie schaukelt die mit schwarzen Tüchern behangene Wiege und Krystef Komedas "Lullaby" ertönt. Der Film endet dann mit der gleichen Einstellung wie er begann und der gesellschaftliche Umbruch scheitert an den ältesten Gesetzen der Natur.

Wertung: 9/10

"Rosemaries Baby"
US 1968
Roman Polanski
mit Mia Farrow, John Cassavetes, Ruth Gordon

Sonntag, 22. April 2012

SHAME


Sex und Schuld, auch in Steve McQueens neuem Film kleben sie zusammen und lassen sich nicht trennen.

Brandon (Michael Fassbender) ist ein erfolgreicher New Yorker Geschäftsmann. Mühelos gelingt es ihm Frauen ins bett zu kriegen, doch das reich ihm nicht. Er leidet unter Sexsucht und seine Lust ist unstillbar. Als seine Schwester (Carey Mulligan) bei ihm für eine Zeit übernachten will, setzt das Brandon noch mehr unter Druck.

Der Blick spielt in Steve McQueens neuem Film "Shame" eine überaus wichtige Rolle. Er gibt uns die Möglichkeit durch die Augen in die Seele des Schauspielers zu blicken. Er verrät uns seine Gefühle, Gedanken und Pläne, wie z.B. Brandons Idee das Mädchen aufzureißen, was ihm da gegenüber in der U-Bahn sitzt, aber der Blick kann ebenso voyeuristisch sein und besonders im Kino ist er es. Die Kamera entscheidet, was wir sehen. Sie kann uns nötigen Dinge zu betrachten, die uns missfallen. Dass McQueen das Unübliche sucht, sieht man bereits am Anfang. Innerhalb einer Montage, die Raum und Zeit durchzuschneiden scheint, illustriert der Film die Monotonie in Brandons Leben, Sex, Vorhänge aufziehen, Duschen, Masturbation. Dabei geniert sich die Kamera nicht Brandons Penis in Nahaufnahme zu filmen und das mehrmals. Allein dieses Bild zeigt uns eine Seite von Sexualität, die im Kino stark benachteiligt wurde. Sexszenen im Film sind meistens bloße Verführung. Der Held, also ein Mann, erliegt den "Waffen einer Frau", weshalb man nackte Brüste und Frauenhintern tausendmal öfter auf der Leinwand sieht als einen Penis. Eigenartigerweise müssen sich Frauen andauernd ausziehen. Steve McQueen versucht diese Ungerechtigkeit zu relativieren indem er die Scham des Mannes in den Fokus rückt. Die erwähnte Aufnahme von Brandons Penis kommt aber nicht beim Akt selbst zum Tragen, sondern beim bloßen Gang vom Schlafzimmer in die Küche. In diesem Moment reduziert der Film sich auf das Wesentliche. Hier geht es nur ums Fleisch. Auch wenn McQueens Porträt eines Sexsüchtigen überwiegend bereits gestrickten Mustern folgt und sein New-Yorker-Edellook eher den Abgründen der Geschichte trotzt als den Zuschauer da hinein zu stoßen, sind es doch gerade die subtilen Momente, die haften bleiben. Meistens vertraut McQueen nur auf eine Einstellung um alles zu erzählen, genauso im Reich der Dunkelheit verortet er die Vergangenheit von Brandon und seiner Schwester. Shame, das könnte auch für ein Stigma stehen, was den beiden Geschwistern seit ihren Kindestagen eingebrannt ist.

Wertung: 6/10

"Shame"
US 2011
Steve McQueen
mit Michael Fassbender, Carey Mulligan, Nicole Beharie

EXISTENZ



Nach Fassbinders „Welt am Draht“, zeitgleich mit „Matrix“ und lange vor „Inception“ erschienen, zeigte uns David Cronenberg seine Vision virtueller Welten.

In der Zukunft sind die Designer interaktiver Spiele an der Macht. Spieler messen sich in einer VR-Welt, die von der realen Welt kaum noch zu unterscheiden ist. Eine Game-Community trifft sich in einer abgelegenen Kirche, um das neueste Spiel von Designerin Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) zu testen. Doch dann versucht jemand die berühmte Spieledesignerin zu töten. Sie flieht zusammen mit dem unerfahrenen Marketingpraktikanten Ted Pikul (Jude Law).

Man sollte schon mal ein Videospiel gespielt haben, um den Detailreichtum in „eXistenZ“ überhaupt überblicken zu können. Cronenbergs langjährige Production Designerin Carol Spier hatte sichtlich Spaß an diesem Film und schuf bizarre Welten, Level und Räume. Jude Laws Figur Ted Pikul urteilt einmal über die Welt im Film „Das ist alles so grotesk.“ und gibt damit zu verstehen, dass er das künstliche entlarvt hat.

Während die Realität ein Ort der Willkür ist, dessen Sinn und Bedeutung der Mensch erst durch seine kognitiven Fähigkeiten verstehen muss, wo er vielleicht sogar Bezüge herstellt, die gar nicht existieren, da geht der virtuelle Raum respektive das Leveldesign eines Videospiels den umgekehrten Weg. Diese Welten sind nicht willkürlich erschaffen worden, sie folgen einer inneren Logik. Ihre Gestaltung folgt Mustern. Dementsprechend nimmt die virtuelle Welt bereits die kognitiven Fähigkeiten des Subjekts in ihm vorweg. Dieses Paradox nimmt der gesunde Geist sehr schnell wahr, weshalb Ted Pikul zum Schluss kommt „Das ist alles so grotesk.“

Darin erscheint nicht nur ein Dilemma virtueller Welten, sondern aller Künste, welche die Realität als Vorlage haben, das Kino zum Beispiel. Das Gleichnis zwischen der Gamedesignerin und dem Regisseur zwingt uns der Film förmlich auf und Allegra Geller wird dadurch zum ersten weiblichen Alter Ego Cronenbergs. Ähnlich wie Geller sich im Film zahlreicher Gegner ihrer Kunst stellen muss, so ist auch Cronenberg in seiner Karriere mit vielen Zensoren aneinander geraten.

Nichtsdestotrotz erscheint der Konflikt Kunst und Realität das eigentliche Hauptthema von „eXistenZ“ zu sein. Die Frage ist: Führen virtuelle Welten zu einer neuen kopernikanischen Wende? Denn inwieweit und vorallem wie lange kann Ted Pikul sich noch sicher sein, dass er sich in einem künstlichen Raum befindet? Beim Filmemachen, wie auch beim Videospielkreieren geht es darum das Unglaubwürdige glaubhaft zu machen. Wann hat sich Pikuls Verstand daran gewöhnt, dass die Welt um ihn herum grotesk ist? Wie kann er sich dem noch sicher sein, wenn seine kognitiven Fähigkeiten zunehmend verkümmern und die Welt das Denken übernimmt?

Cronenberg wurde vielfach Kultur-, Wissenschafts- und Medienpessimismus vorgeworfen. In Wahrheit sind seine Filme weder pro noch kontra, auch in „eXistenZ“. Während in „Matrix“ oder später „Inception“ der Realitätsverlust stets negativ betrachtet wird, stellt Cronenbergs Film unverhohlen die Frage, wofür man die Realität überhaupt noch bräuchte. Die meisten Figuren in „eXistenZ“ spielen diese Spiele nicht um sich gefangen nehmen zu lassen, sondern um frei zu sein. Die Realität hat nur den Sinn, den ich ihr gebe und selbst dann weiß ich nicht ob ich richtig liege. Ein Videospiel belohnt dich dafür, dass du den richtigen Sinn erkannt hast. Es geht weiter. Dementsprechend folgt der Spieler der Logik des Spiels, denkt was das Spiel denkt und handelt wie der Schöpfer es will. Nicht ohne Grund wird Allegra Geller von manchen Fans als Gottheit verehrt und wiederum gibt es andere Gruppierungen, die in ihr eine Dämonin sehen. Hier geht es um einen Glaubenskrieg. Falls Gott unsere Welt erschaffen hat, brauchen wir sie jetzt nicht mehr. Wer direkt in den Himmel will, braucht nur die Konsole anzuschalten. Das gilt auch für die Hölle.

Innerhalb von Cronenbergs Werk nimmt „eXistenZ“ eine Sonderstellung ein. Nach dem reduktionistischen „Crash“ und vor dem sanften „Spider“, wirkt „eXistenZ“ wie der Nachruf zu Cronenbergs Frühwerk, wie der späte Abschluss einer Trilogie, die mit „Videodrome“ und „Naked Lunch“ begann.

Vielleicht lag es auch an der Jahreszahl 1999, dass Cronenberg sich auch das erste mal zu einer wirklichen Zukunftsvision hinreißen ließ. Alle seine anderen Sci-Fi-Filme spielen praktisch in der Gegenwart, da ihre wissenschaftlichen Novi nicht Teil einer gesellschaftlichen Utopie sind. Anders als in „eXistenZ“, wo die Erfindung virtueller Welten zu einem neuen Religionskrieg geführt hat.

All das konnte man noch nicht vorhersehen, doch das neue Jahrtausend ist geprägt durch „Ismen“ und Glaubenskonflikte, Wirtschaftskollaps und Umweltzerstörung. Unsere heutige Welt ähnelt einem Super-Mario-Level indem es darum geht möglichst oft in einen Abgrund zu springen. Wo wir wieder bei Kant wären, eine Nebenwirkung der Aufklärung vielleicht? Warum also sollte man sich nicht wieder in die Unmündigkeit begeben? Wir flüchten einfach in virtuelle Welten, die man nicht kaputt machen kann, wo man niemanden wirklich verletzt und die einem trotzdem das Gefühl geben Ziele zu erreichen, die von Belang sind, solange man fest genug daran glaubt. Unser realer Körper bleibt einfach liegen und kann niemandem etwas antun. Er vegetiert einfach vor sich hin und lässt die Welt in Frieden, die sowieso nicht für ihn geschaffen wurde. Ist das grotesk? Am Ende von „eXistenZ“ stellt jemand eine einfache, aber weitreichende Frage: „Sind wir noch im Spiel?“ In Zukunft wird die Antwort lauten: Wen kümmert's?

Wertung: 8/10

"eXistenZ"
US 1999
David Cronenberg
mit Jennifer Jason Leigh, Jude Law, Ian Holm