Samstag, 30. April 2011

I LOVE YOU PHILLIP MORRIS


Ironie pur! Eine der erfrischendsten Komödien der letzten Jahre scheitert letztendlich am Versuch ernsthaft zu sein.

Der unauffällige Geschäftsmann Steven Russell führt ein geregeltes Leben mit Frau, Kind, Haus und sonntäglichem Gesang im Kirchenchor. Bis ein Autounfall ihm zu einer profunden Erkenntnis verhilft: Er ist schwul. Fortan lässt er keine Party, kein exklusives Restaurant und keinen knackigen Kerl mehr aus. Das pralle Leben erweist sich als kostspielig, aber Steven beweist ungemein viel Phantasie in der regelmäßigen Beschaffung der notwendigen Finanzmittel. Natürlich geht das nicht lange gut und er landet im Knast. Dort lernt Steven seine große Liebe, den zurückhaltenden Phillip Morris, kennen. Und damit fangen die Probleme für Steven überhaupt erst so richtig an.

"Brokeback Mountain trifft auf Catch me if you can", so steht es auf der DVD-Rückseite. Kein guter Start, bei solchen Marketing-Sprüchen kommt mir schnell das Kotzen. So nach dem Motto: "Wow, der Film hat mir gefallen und der andere Film hat mir auch gefallen, dann wird mir dieser Film ja doppelt so gut gefallen." Leider war es nicht so, "I love you Phillip Morris" ist weder so gut wie Ang Lees Meilenstein, noch so gut wie Spielbergs mitreißender Hochstaplerfilm. Vielleicht, weil er wieder einmal an dem Umstand scheitert Film und Realität miteinander verschweißen zu wollen.

Wie uns zu Filmbeginn schriftlich eingebläut wird, handelt es sich hier um eine Geschichte nach einer wahren Begebenheit, oder so, was den Filmemachern in vielerlei Hinsicht das Leben erleichtern, aber auch verherrend erschweren kann. Denn, obwohl ich nicht so viel erklären muss, wie bei einem rein fiktiven Film, weil der Zuschauer vieles hinnimmt, da es ja in der Realität anscheindend so passiert ist, muss man als Filmemacher umso stärker sorgen, dass es sich echt anfühlt. Entweder man entfremdet ("Terminal") und hat dann mehr Freiheiten oder man zieht es beinhart durch ("Dog Day Afternoon"), aber "I love you Phillip Morris" wirkt so, als wolle er eine wahre Biografie schildern und auf der anderen Seite schmeckt er so künstlich wie ein Bum-Bum-Eis. Nun könnte man mit der ultima ratio der Ausreden argumentieren, es würde sich hier um ein Stilmittel handeln, aber so leicht ist es nicht.

Ich will allerdings erst mal versuchen zu begründen, warum der Film mir trotzdem gefällt. Er hat in jeder Hinsicht eine tolle Handlung. Das Leben schreibt eben immer noch die besten Geschichten und dem Drehbuch gelingt es auch dem schwierigen Spagat zwischen Komödie und Drama Rechnung zu tragen. Darüber hinaus gelingen den beiden Regisseuren tolle, rein visuelle erzählerische Momente, besonders bei den komischen Szenen. Sowieso ist der Film eine wirklich gute Komödie mit hohem Unterhaltungswert.

Ich hatte meinen Spaß, aber warum leistet er sich so ein schweres Versagen bei den ernsthaften Szenen? Lag es am Casting oder am Drehbuch? Von allem etwas, würde ich sagen. So gut das Script bei den komischen Momenten funktioniert, so kläglich scheitern die beiden Regisseure beim Drücken auf die Tränendrüse. Ich bin ja eigentlich auch nah am Wasser gebaut, aber selten war Weinen so nervig wie hier. Entweder steht im Drehbuch zu oft "They cry." oder die Regie verwechselt Mitgefühl mit Mitleid. Nur weil Gähnen ansteckend ist, muss das nicht auch für Tränen gelten. Meiner Meinung nach hat hier auch ganz klar das Casting versagt. Carrey und Gregor passen einfach nicht zusammen. Ihre Liebesszenen wirken künstlich. Ich sehe da nur zwei Hetero-Schauspieler, die schauspielen. Das ärgert umso mehr, da die Darsteller in ihren Solo-Szenen sehr gut spielen.

"I love you Phillip Morris" ist bis zur Hälfte eine rasante und intelligente Komödie, die mit ihrer hohen visuellen Brillianz begeistert, aber leider, besonders im letzten Drittel, den Sprung zum biografischen Drama nicht schafft und an seiner künstlichen Ernsthaftigkeit und seinem Nacherzählanspruch letztendlich scheitert.

Wertung: 5,5/10


"I Love You Phillip Morris"
US, FR, 2009
Glenn Ficarra, John Requa
mit Jim Carrey, Ewan McGregor, Leslie Mann



Auf DVD & Blu-ray erhältlich!

Mittwoch, 20. April 2011

DON'T LOOK NOW


In Nicolas Roegs unsterblichen Meisterwerk geraten Gefühl und Vernunft auf schmerzvolle Weise gegeneinander und dem Medium Film wird ganz nebenbei auf ungeahnte Weise neues Leben eingehaucht.


John Baxter kommt mit seiner Frau Laura nach Venedig. Beide trauern um ihre Tochter, die erst kürzlich ertrunken ist. Als sie zwei mysteriösen Schwestern begegnen, geraten beide in den Bann unheimlicher Visionen.

Daphne du Maurier sollte jedem Filmfan ein Begriff sein, schuf die britische Autorin doch die Vorlagen zu zahlreichen Filmklassikern, vornehmlich Hitchcockwerke, von "Rebecca" bis "The Birds". Für die Verfilmung ihrer Erzählung "Don't Look Now" (DT: "Dreh dich nicht um") wurde allerdings der aufstrebende Regisseur und ehemalige Kameramann Nicolas Roeg verpfilchtet, der aus der symbolreichen Geschichte einen okkultistischen Fieberalptraum schuf, der mit Hitchcocks Kino nichts mehr zu tun hatte, ja, sogar dessen Antithese darstellt.

Während Roeg seine ersten beiden Filme noch selbst fotografierte, stand mit Anthony Richmond nun das erste mal ein anderer hinter der Kamera. Es ist unklar inwieweit sich die beiden Filmemacher ähnelten oder Roeg seinen Kameramann beeinflusste, klar ist, dass die personelle Änderung keinen Bruch in der visueller Gestaltung erzeugte. Auffällig ist aber, dass in "Performance" und "Walkabout" die Kamera weitaus exotischere Winkel sucht als in "Don't Look Now", was dieser größeren Prestige-Produktion damals wohl eher zu Gesicht stand. Die auffällige Farbdramaturgie ist ebenfalls ein Alleinstellungsmerkmal von Richmonds erstem Roeg-Film. Er taucht Venedig in schwelendes grau und beige. Selten, aber umso gezielter, kommt die Farbe Rot zum Einsatz, die gleichzeitg das visuelle Leitthema des Film darstellt, roter Regenmantel, rotes Blut. Die Schuld ist rot, ebenso ist es die Farbe der Warnung. Dieser steile Kontrast unterstreicht wunderbar die zahlreichen Brüche und Gegensätze innerhalb des Films.

Visuell ist "Don't Look Now" sowieso ein Film des genauen Hinsehens, des zweiten Blicks. Obwohl Roeg in zahlreichen Interviews insistiert, dass er weder probt, noch seine Filme großartig plant, erstaunt es umso mehr, dass die zahlreichen Details scheinbar wie gezielt inszeniert wirken. Wirklich verstehen und begreifen kann man diese filmische Collage nur, wenn man sich das Puzzle noch einmal von weitem ansieht, wenn man den Film einfach ein zweites Mal schaut.

Gerade in der viel-kritisierten, angeblich langweiligen, Mitte des Films, lässt sich Roeg Zeit eine subtile Stimmung der Verschwörung und Überwachung zu kreieren, von der sich Donald Sutherlands Figur aufsaugen lässt. Immer wieder lenkt die Kamera mit schnellen Zooms und heftigen Schwenks auf mehrdeutige Objekte oder unbehagliche Blicke vertrauensunwürdiger Nebenfiguren, vom Polizeikommissar bis zu den netten alten Damen. Am Ende kann der Zuschauer niemanden mehr trauen und auch er flüchtet sich in die unheilsamen Visionen der Hauptfigur.

"Sehen heißt Glauben!" spricht John Baxter zu sich, doch was ist, wenn man mehr sieht, als man glauben könnte? "Don't Look Now" zeigt uns wie kein zweiter Film, wie abhängig wir von unseren Vorstellungen und Vorurteilen sind. Keiner von uns geht mit offenen Augen durch die Welt. Wir glauben nur das, was wir glauben wollen. Roegs Film, getarnt als psycholgischer Horror-Thriller, ist somit viel eher eine philosophische Aufarbeitung der Erkenntnistheorie und ebenso eine Abrechnung mit dem kritischen Rationalismus. Die Moderne, mit all ihrer Wissenschaft, die Aufklärung, mit seiner angeblichen Unmündigkeit, sie alle werden hier zur Schlachtbank geführt und zerschmettert mit dem vollen Einsatz von Kamera, Schnitt und Musik.

Der italienische Komponist Pino Donaggio lieferte hier seine erste Filmmusik ab, die nicht besser sein könnte. Schnelle Streicher, atonale Flötentöne, ein dumpfes Klavier, elektronische Töne, düstere Percussions, erst der vielschichtiger Score treibt "Don't Look Now" in die Höhen eines ernsthaften Horrorfilms. Später arbeitete Donaggio mit Argento und De Palma, was seine Eignung für dieses Genre noch einmal bestätigte.

Julie Christie und Donald Sutherland spielen das Baxter-Ehepaar. Christie wurde bereits von Roeg bei früheren Filmen fotografiert. Sutherland arbeitete das erste mal mit ihm. Rausgekommen ist eine der authentischsten Schauspielereignisse der 70er Jahre. Christie, bildschön und mit reiferem Gesicht, verkörpert die Laura als fragile Heldin, während Sutherland in seiner verkopften Rolle weitaus brüchiger erscheint. Die virtuose Leistung der Schauspieler, besonders bei der berüchtigten Liebesszene, führte damals zu einem kleinen Skandal, da die Leute dachten die beiden Schauspieler hätten wirklich miteinander geschlafen. Lars von Trier gelang selbiges in seinem Quasi-Remake "Antichrist" nicht, obwohl er sogar Nahaufnahmen vom Geschlechtsverkehr hineinschnitt. Roeg brauchte das nicht. Die Leistung der beiden Darsteller begeisterte auch Daphne du Maurier, die nach der Premiere auf Roeg zuging und ihm beschrieb wie sehr sie sich an wirkliche Ehepaare erinnert fühlte.

Allerdings, erst Roegs Einsatz des auktorialen Schnitts erhob den Film endgültig in den Olymp des Kinos. Angefangen bei der unvorhersehbar geschnittenen Todesszene der Tochter bis zur berühmten Sexszene, die das Liebesspiel mit dem anschließenden Anziehen ineinander montiert, was gleichzeitg Sinnbild der Dualität von Gefühl und Vernunft darstellt. Roegs undurchsichtiger und hoch-atmosphärischer Film kann sich nicht auf eine konventionelle Plot-Montage verlassen. Der Film muss hier zu seinem eigenem Rhythmus finden, muss die Möglichkeit besitzen vor- und zurückzuspringen, zu fragmentieren, seine Gedanken zu ordnen. Er muss sein eigenes Bewusstsein entwickeln. "Don't Look Now" ist somit der einzige Film, wo man glaubt, man würde dem Projektor beim Denken zuschauen.

Wertung: 10/10 !


"Wenn die Gondeln Trauer tragen"
IT, GB 1973
Nicolas Roeg
mit Julie Christie, Donald Sutherland, Hilary Mason



Bisher nur auf DVD erhältlich.
Arthaus hat aber für den Herbst eine Blu-Ray angekündigt.


Dienstag, 12. April 2011

TOMBOY


Ohne "zu viel" zu wollen, untersucht die junge französische Filmemacherin Céline Sciamma den Ursprung einer transsexuellen Identität.

"Tomboy" ist ein richtig guter Inhaltsangabenfilm, also ein Film, dessen Inhaltsangabe zum Sehen verführt. Ideal für die Berlinale, wo der Film im Panorama zusehen war. Da man als Festivalzuschauer, komplett ohne die Beeinflussung durch Werbung, seine Filmauswahl treffen muss, hat ein Film mit einer interessanten Inhaltsangabe im Prospekt die besten Zuschauerchancen, wenn nicht gerade namhafte Leute Regie führen oder Schauspielen.

Celine Sciamma ist jedenfalls kein reich beschriebenes Blatt, was ebenso auf das Ensemble zutrifft und auch ihr Film hat mehr zu bieten als nur eine gute Inhaltsangabe. In "Tomboy" geht es um das französische Mädchen Laure, die in eine neue Nachbarschaft zieht und sich unter den anderen Nachbarskindern als Junge ausgibt. Sie gewinnt eine neue Freundin, die sich aber heillos in sie verliebt. Wie gesagt, wer will nicht bei so einem authentischen und unaufgeregten Handlungskonflikt ins Kino stürmen?

Sciamma erzählt ihren Film stilistisch fernab großer Vorbilder. Die Kamera ist stets nah an den Figuren und wagt es selten sich weiter als Halb-Total zu positionieren. Ohnehin sind die Kadragen so smooth, alles gleitet, vom Schnitt bis zur Farbpalette, nichts sticht ins Auge, will provozieren, keine Innovation, keine Risiken, aber auch keine Fehler, denn abgesehen von dem Hauch Fernsehfilmatmosphäre, die "Tomboy" stets umgibt, macht Sciamma letztendlich alles richtig. Sie lenkt nicht ab von ihrer Geschichte, hält den Zuschauerblick fest im Griff.
Wenn man die Jungdarsteller beobachtet, dann wünscht man sich sowieso keine filmischen Finten und keine Knalleffekte, denn besonders die Darstellerin der Laure ist eine erstklassige Besetzung, die in vielen statischen Großaufnahmen nuancenreich aufspielt. Eine bewegte Kamera würde hier einer Zerstreuung gleichkommen. Die stilistische Klarheit des Films, sein puristischer Erzählwille, wird dann doch durch dramaturgische Schwächen getrübt.

Die Elternfiguren sind zwar sehr gut besetzt, aber leider viel zu kantenlos. Wer einmal perfekte Eltern in einem Film sehen möchte, sollte sich "Tomboy" ansehen. Das ist umso gravierender, weil dadurch der ganze Konfilkt geschwächt wird. Denn wenn Laures Geheimnis aufgedeckt wird, braucht sie schon mal keine Angst vor den Konsequenzen ihrer Eltern zu haben. Die wollen doch nur knuddeln. Abgesehen davon, ist "Tomboy"s größte Schwäche eine grundsätzliche Konflikt-Armut, denn summa summarum speist sich Sciammas Drehbuch nur aus einer einzigen Idee, eben der Idee, die mich ins Kino trieb. Der Unterschied ist, sobald man im Kino sitzt, will man etwas sehen, was man noch nicht kennt. Da versagt "Tomboy" komplett. Obwohl der Film seine 80 Minuten füllen kann, habe ich mich letztendlich doch gefragt, ob ein Kurzfilm hier nicht ausgereicht hätte.

Schlussendlich ist mir noch eine Sache aufgefallen, die mich sehr irritiert hat. Sciamma lässt den Zuschauer zu Beginn im Glauben Laure sei ein Junge. Den Moment der Aufklärung wählt sie allerdings ziemlich unbedacht. Laure badet, ihre Mutter ruft sie, sie steht auf, wir sehen, dass sie ein Mädchen ist, sie wirft sich ein Handtuch um. Was David Mamet einmal als ästhetische Distanz beschrieb, halte ich hier für missachtet. Warum muss man ein Kind nackt auf der großen Leinwand zeigen, wenn es tausend andere Wege gibt die Geschlechterfrage zu klären? Wie stand die Kinderdarstellerin selbst dazu? Was haben ihre wirklichen Eltern beigetragen? Was hat sich die Regisseurin dabei gedacht? Ein nacktes Kind im Bild irritiert immer, wirft den Zuschauer aus dem Film heraus und bringt ihn zum Husten. Das darf bei solch einem Film nicht passieren. Besonders, wenn man davor so viel richtig gemacht hat, angefangen bei der spannenden Inhaltsangabe.

Wertung: 6/10


"Tomboy"
FR 2011
Céline Sciamma
mit Zoé Héran, Malonn Levana, Jeanne Disson



gesehen auf der Berlinale 2011

Montag, 4. April 2011

A.I.


Einer der am meisten unterschätzten Filme aller Zeiten, Spielbergs Opus Magnum über Menschlichkeit im Künstlichen wächst bei jedem Sehen etwas mehr. Ein Kunstwerk, was erkämpft werden will.


Ein Erzähler erhebt seine Stimme. Er berichtet uns vom eskalierten Klimawandel, Überbevölkerung und Geburtenkontrolle und wie all diese Dinge Grundlage einer rasch wachsenden Roboter-Industrie wurden. Eigentlich fehlt nur noch das „Es war einmal...“ zu Beginn, doch das wäre bei einem Science-Fiction-Film doch reichlich unangebracht gewesen. „A.I.“ ist dennoch ein Märchen, ein Abenteuerfilm, eine Initiationsgeschichte und in seinem schwer deutbaren Zielgruppenmuster letztendlich auch ein Kinderfilm.

In dieser Steven-Spielberg-Adaption einer Stanley-Kubrick-Geschichte wird von einem Roboterkind erzählt, dass als erstes seiner Art die Fähigkeit besitzt, aufrichtig zu lieben. Das schreibt sich leichter als man denkt. Auch Spielberg sucht am Anfang nach klaren Worten und lässt William Hurt im ruhigen Prolog über all die Thesen sprechen, denen sich „A.I.“ in den folgenden 140 Minuten widmen wird. Die einfach gestrickte Eröffnungsszene mag zwar auf den ersten Blick den Weg des geringsten Widerstandes gehen, doch von weitem ist Spielbergs Film ein großes Gedankenexperiment, dass auch versucht Themen wie Menschlichkeit, Liebe und Identität filmisch auf den Grund zu gehen. Kann man Liebe überhaupt filmen? Gefühle, die im Verborgenen liegen, keine physische Form besitzen und somit von der Kamera nicht erfasst werden können. Ein Dokufilmer würde hier eindeutig an seine Grenzen kommen, doch die Fiktion erlaubt es uns das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Haley-Joel Osment spielt David, das künstliche Kind, humanistisches Ideal und somit inkompatibel zu den „echten“ Menschen. Seine Menschenmutter verstößt ihn, nachdem Davids aufrichtige Liebe zur Bedrohung der fleischlichen Familie wurde. Sie entschließt sich ihn im Wald auszusetzen, statt zu töten, wie in „Hänsel und Gretel“. Sein sehnsuchtsvoller Blick im Seitenspiegel ist das letzte was sie sieht. Es ist der Beginn einer Reise, einer Art „Coming of Human“. Die klassische Märchendramaturgie der sich Spielberg hier bedient ist frei von jedweden postmodernen Spielereien. „A.I.“ ist so konzipiert als wäre er der erste und letzte Film der Welt, vollkommen eigenständig, frei von Zynismus, Sarkasmus oder Ironie. Hier gibt es keine intellektuellen doppelten Böden, vielleicht sogar keine richtige Meta-Ebene, da „A.I.“ jeden Gedanken und jedes Gefühl in Bilder umsetzt und dem Zuschauer auf die Netzhaut projiziert. Selten gibt es Filme, die so offen und ehrlich sind. Spielbergs Film ist so verletzlich und angreifbar, wie seine Hauptfigur, wie ein neugeborenes Kind. Milderung, den Weg der Mitte sucht man hier vergebens. Jeder Ton wird so gehört, wie er auch gespielt wurde, sei er auch noch so hoch oder tief. So ein fast reiner Gefühlsfilm wird auch gerne mit Kitsch verwechselt. „A.I.“ ist in jedem Fall sentimental, aber das ist kein Makel, sondern Stärke.

Spielbergs Filme waren ohnehin schon immer sentimental. „A.I.“ ist die Quintessenz seiner Filme. Auch hier muss sich der Held an die Hölle gewöhnen, muss versuchen seine Unschuld zu bewahren. Sie sind tragische Cervantes-que Figuren. David ist jedoch der sturste, der mit dem größten Durchhaltevermögen. In den früheren Spielbergfilmen kam meistens das Happy End zur Hilfe. Nur so konnten seine Helden erlöst werden. Davids Schicksal endet ambivalent, sperrig und unbefriedigend. Man kann es Erlösung nennen, aber es ist dennoch nur Verblendung und Täuschung. Hier ist der Einfluss Kubricks am stärksten zu spüren, obwohl es sich um ein Spielberg-Ende handelt. Wenn David neben seiner Mutter einschläft, in der Gewissheit, nie wieder aufzuwachen, dann ist der Zuschauer hin- und hergerissen, zwischen Liebe und Hass, zwischen Bewunderung und Mitleid. Es ist wie Selbstmord, aber dennoch hat David das höchste Glück gefunden. Was gibt es noch für ihn? Nichts. Überleben ist hier Tod, Sterben jedoch leben, ein Happy-End ohne Fortsetzung.

Wertung: 9,5/10



"A.I. - Künstliche Intelligenz"
US 2001
Steven Spielberg
mit Haley-Joel Osment, Jude Law, Frances O'Connor


Auf DVD & Blu-Ray erhältlich!